Süddeutsche Zeitung

Favoriten der Woche:Jenseits des Schreckens

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Jenna Ortega überzeugt nicht nur als morbide Tochter der "Addams Family". Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus der SZ-Feuilleton.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Schauspiel: Jenna Ortega

Wednesday, die stilsicher morbide Tochter der "Addams Family", war ihr als Rolle quasi vorbestimmt. Mit Tim Burtons gleichnamigem Netflix-Superhit ist Jenna Ortega über Nacht zum Weltstar geworden. Für immer Horrorprinzessin also, weil sie außerdem in den Slasherfilmen "X" und "Scream" mitgespielt hat? Wohl kaum. Die Kalifornierin mit mexikanischen und puerto-ricanischen Wurzeln kann mehr, wie man eindrücklich in dem Film "The Life After/The Fallout" sieht ( auf Amazon Prime, iTunes, Google Play etc.) Darin spielt sie Vada, die ein Massaker an ihrer Highschool überlebt und erst denkt, sie habe alles gut weggesteckt - bis ihr Leben immer mehr ausfranst. Ein stiller Film voll aktueller amerikanischer Teenager-Realität, der das Jungsein selbst in der Vordergrund rückt, noch vor Terror und Drama. Geschrieben und inszeniert von Megan Park, die man sich ebenfalls merken sollte. Tobias Kniebe

Ausstellung: George Grosz in Sowjetrussland

Dass erwartungsfroh angetretene Moskau-Reisen später zur peinlichen Erinnerung werden, ist nicht erst ein Phänomen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Vor ziemlich genau 100 Jahren reiste George Grosz ins sowjetische Russland, wurde von avantgardistischen Künstlern wie Wladimir Tatlin empfangen und von Dichtern wie Wladimir Majakowski gefeiert, wohnte höchsten bolschewistischen Zusammenkünften bei - und wollte von alldem später nur noch wenig wissen. Das "Kleine Grosz Museum" in Berlin aber, eine Oase in einer alten Tankstelle nahe der Potsdamer Straße, hat Grosz' mehrmonatigem Russlandbesuch eine erhellende, ja enthüllende Ausstellung gewidmet. Sie zeigt nicht nur frühes klassenkämpferisches Material des Künstlers und Kommunisten Grosz, sondern dokumentiert in bislang unbekannter Detailtiefe auch die Stationen seiner Reise zu den Bolschewisten. Verblüffend idyllische Zeichnungen aus einem kleinen Ort am norwegischen Polarkreis, wo Grosz mit dem dänischen Schriftsteller Martin Andersen Nexø auf die Überfahrt wartete, sind darunter und vor allem seine Ankunft in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, wo er von Grigorij Sinowjew empfangen wurde, damals Leiter des Komintern, wenige Jahre später hingerichtet.

Der Höhepunkt der Reise und der Ausstellung aber war Grosz' Teilnahme am 4. Komintern-Kongress, erst in Petrograd, dann in Moskau. Filmausschnitte zeigen Reden von Clara Zetkin, dem Kulturfunktionär Lunatscharskij und Lew Trotzki. Letzterer, als Nachfolger des schwerkranken Lenin gehandelt, konnte mit Grosz' drastischen Karikaturen übrigens nichts anfangen. Er nannte sie "eher zynisch als revolutionär".

Die Schau (bis 31. März) verschweigt nicht, wie brutal die Bolschewisten schon damals gegen echte oder erfundene Widersacher vorgingen - gegen Sozialrevolutionäre, Philosophen, Künstler. Und doch ist die Frage, ob die Repression bei Grosz tatsächlich jenen Stimmungsumschwung einleitete, wie er später behaupten sollte, der 1923 zu seinem Austritt aus der Kommunistischen Partei führte. Wenn man seine antikapitalistische Agitationskunst aus der Mitte der Zwanzigerjahre sieht, den monumentalen Sonnenaufgang von Hammer und Sichel aus dem Jahr 1925 ("Revolution", s. Foto) oder die Darstellungen ausgemergelter Arbeiterfamilien ("Hunger", 1924), hat man da doch einige Zweifel. Für Grosz aber, der von 1933 an in den USA lebte und in den Fünfzigern die Hochphase des McCarthyismus erlebte, war die Erinnerung an das russische Abenteuer längst schlimmer als eine Peinlichkeit - sie war zum Risiko geworden. Sonja Zekri

Alte Musik: Silent Dance

Dass Musik zu Tränen rühren, dass sie Gefühlsstürme entfachen kann bis hin zur Selbstvergessenheit, ist wohlbekannt. Natürlich auch, dass man sich leicht in sie hineinträumen und in ihr verlieren kann. In der Zeit Elizabeth I. in England wurde das zur Melancholie-Mode so sehr, dass von der English malady gesprochen wurde. Man gab sich in Adels- und Gelehrtenkreisen schwermütig und schmerzerfüllt, man klagte und weinte gar, man pflegte die dunklen Seiten der Seele. Shakespeares "Hamlet" lässt sich als Prototyp eines solchen heillosen Melancholikers verstehen. Das, was heute hingegen unter depressiv gehandelt wird, passt nicht deckungsgleich auf diesen älteren Melancholie-Begriff.

Einer der in ganz Europa berühmten Meister dieser dunkel glänzenden Mode der Schwermut und des süßen Schmerzes war der große Lautenist John Dowland (1563 - 1626), der von sich selbst lautmalerisch sagte: "Semper Dowland, semper dolens"- immer Dowland, immer leidend. Auch vom Jahrzehnte jüngeren Henry Purcell (1659 bis 1695), Englands bedeutendstem Barockkomponisten, gibt es eine Komposition, die zu den schönsten Wehgesängen der Musikgeschichte gehört: "Didos Klage" aus Purcells Oper "Dido und Aeneas".

In ihrem Album "Silent Dance" (Accent) breitet nun die vielfach gefeierte Spezialistin für alte Harfen, Margret Köll, auf einer nachgebauten walisischen Tripelharfe die Fülle hinreißend schwermütiger, doch stets biegsam-virtuoser Musik der beiden englischen Meister aus. Die Arrangements sind der Künstlerin wohl gelungen, selbst dort, wo man kaum glauben mag, dass die menschliche Stimme "ersetzt" werden kann. Doch die alte Harfe mit ihrem vollen weichen Ton rührt so an, dass nie der Verdacht aufkommt, hier müsste dies oder das ergänzt werden. Mit dem ersten Zupfton wirkt die Verführungskraft dieser unwiderstehlich geschmeidigen, nie weinerlichen, sondern stets nobel traurigen Musik. Natürlich darf "Didos Klage" ebenso wenig fehlen wie Dowlands berühmtes "Flow My Tears". Magret Köll gelingt es mit ihrem historisch orientierten Harfenspiel, eine ganze Welt aus edler Tristesse, klanglicher Schönheit und eleganter Formvollendung zu öffnen. Wer mit dem Album anfängt, hört nicht eher auf als mit dem letzten Ton. Harald Eggebrecht

Serie: Devil in Ohio

Kann auch nicht alles glänzen. Nicht jede Serie ist gleich "White Lotus" oder "Die Ringe der Macht" oder "Better Call Saul", es stecken auch nicht überall Millionen drin für Starautoren, Stardarsteller, Starkomponisten. Manche Serien sind einfach: okay. Die Schauspielleistungen in Ordnung, die Dialoge eher grottig, aber irgendetwas fesselt einen. So waren Fernsehserien früher meistens, und wenn zumindest das mit dem Fesseln funktioniert, schauen auf Netflix immer noch Millionen zu: So auch bei "Devil in Ohio", einer wirklich mittelmäßig guten und gerade deshalb reizenden Serie über eine Psychiaterin, gespielt von Zooey Deschanels älterer Schwester Emily, die ein mysteriöses, einem satanistischen Kult entflohenes Mädchen aufnimmt. Es folgen: merkwürdig fehlplatzierte Gruselsoundeffekte, stereotyp schauerhafte Krähen, ein perfekter Ehemann, der wenig überraschend doch nicht perfekt ist - und Lucifer selbst natürlich, in den Maisfeldern von Ohio. Ein - erstaunlicherweise - teuflischer Spaß. Aurelie von Blazekovic

Literatur: Zwölf Zimmer für sich allein

Man muss gedruckte Interviews als Genre nicht mögen. Wenn man sich davon höhere Authentizität verspricht, den Eindruck, jemanden sprechen zu hören, wird man immer enttäuscht. Die Schriftsteller-Interviews der amerikanischen Literaturzeitschrift Paris Review sind aber eine einsame Größe, Werkstattberichte, die zu Lebensgeschichten werden. Unter dem sinnigen Titel "Zwölf Zimmer für sich allein" hat der Kampa-Verlag jetzt zwei Dutzend dieser Gespräche mit Schriftstellerinnen ins Deutsche übersetzt. Beginnend mit einem von 1956 mit Dorothy Parker über Doris Lessing, die auf deutsche Professoren schimpft, Susan Sontag, Elena Ferrante, die erklärt, warum sie hinter ihrem Pseudonym verborgen bleibt, bis zum jüngsten von 2022 mit Jamaica Kincaid: Alle sind sie von wissender Sehnsucht nach dem Schreiben erfüllt. Absolut mitreißend. Marie Schmidt

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