Süddeutsche Zeitung

Fall Gurlitt:Wenn Bilder reden

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Der strafrechtliche Zugriff auf den Kunstschatz von Cornelius Gurlitt war unverhältnismäßig. Doch er hat zu einer phantastischen Endeckung geführt, die einst toten Bilder reden nun. Wer den Fall studiert, ist hin- und hergerissen zwischen Recht und Moral.

Von Heribert Prantl

Die Beschlagnahme der 1280 Gurlitt-Kunstwerke durch die Staatsanwaltschaft Augsburg vor zwei Jahren war ein strafrechtlicher Fehler, ein großer, ein gewaltiger, ja ein unfassbarer strafrechtlicher Streich. Man liest den dürren Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss der Ermittlungsrichterin in Augsburg, der alles ins Rollen gebracht hat, und ist entgeistert: Da wurde die Eintrittskarte zu einer Vorstellung ausgestellt, von der die Richterin keine Ahnung hatte.

Da wurde wegen eines mickrigen Steuervorwurfs auf einen Hundert-Millionen-Wert zugegriffen. Der strafrechtliche Zugriff auf den Kunstschatz war unverhältnismäßig, er ist ein Skandal. Aber zugleich war dieser Zugriff gesegnet - gesegnet mit einer phantastischen Entdeckung, Enthüllung und Offenbarung. Eine falsche Anwendung des Rechts hat dazu geführt, dass die Wahrheit über die Bilder und ihr Schicksal entdeckt wurde oder entdeckt werden kann. Wer diesen Fall Gurlitt studiert, ist daher hin- und hergerissen zwischen Recht und Moral.

Die Bilder waren vor der juristisch dubiosen Beschlagnahme tot. Jetzt reden sie: Sie reden von ihrer Vergangenheit; die sogenannte Provenienzforschung bringt sie zum Sprechen; die Bilder berichten davon, wo und bei wem sie einst hingen; sie berichten von Notverkauf und Raub; viele dieser Bilder tragen die unsichtbaren Spuren von Nazi-Verbrechen, und sie tragen die sichtbaren Spuren vom Verbergen und Verstecken. Viele der beschlagnahmten Bilder waren Gegenstand von Gier, von Hab- und Raffsucht. Sie blieben einst in den Salons der Nazi-Größen und den Depots der Kunsthändler der NS-Zeit, als die Eigentümer der Bilder in den Lagern und in den KZs verschwanden. In einer Gegenwart, in der die letzten Zeitzeugen sterben, in der Endzeit der Erinnerung also, hängt die Zukunft des Holocaust-Gedenkens auch an solchen Bildern.

Diese Bilder sind zwar stumme Zeugen der NS-Verbrechen, sie provozieren aber das Reden über diese Verbrechen von Neuem. Erinnerung - das ist nicht zuletzt die Unruhe, die einen packt, wenn man die Eigentumslage an diesen Bildern zu analysieren versucht und feststellt, wie schwer es für die Erben der Nazi-Opfer ist, wieder in den Besitz dessen zu kommen, was ihren Großvätern und Großmüttern abgepresst worden ist. Das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen Paragrafen über den Erwerb von Eigentum und über die Verjährung von Herausgabeansprüchen der Eigentümer gegen die Besitzer - es ist ungeeignet für die juristische Reparatur von Akten politischer Perversion.

Viele der Gurlitt-Bilder waren Objekte des Unrechts. Gleichwohl: Sie hätten nicht beschlagnahmt werden dürfen, weil das Strafrecht nicht dafür da ist, Bilder zum Reden zu bringen. Strafrecht ist auch nicht dafür da, die Schwächen des BGB und des Zivilrechts auszugleichen. Es ist nicht dafür da, einen übergesetzlichen Herausgabeanspruch zu schaffen, wenn es einen gesetzlichen Herausgabeanspruch nicht mehr gibt. Strafrecht ist allein dafür da, die Schuld einzelner Menschen an einer Straftat festzustellen und die Strafe dafür zu bemessen. Die Verbrechen, von denen die beschlagnahmten Bilder künden, hat nicht Cornelius Gurlitt begangen; er hat die Bilder geerbt, nicht eine strafrechtliche Schuld, die daran klebt. Gurlitt hat aber die moralische Last geerbt, mit denen die Bilder, jedenfalls ein Teil davon, beschwert sind. Ein Verfahren, in dem es um eine kleine Steuerstraftat geht, erlaubt es aber dem Staat nicht, den Beschuldigten von dieser Last durch Beschlagnahme zwangsweise zu befreien.

Unrecht und Unrecht

Die Beschlagnahme der 1280 Bilder erfolgte wegen des wackeligen Verdachts einer "Verkürzung der Einfuhrumsatzsteuer". Vom Wert der Bilder kann die Steuerschuld, so sie denn überhaupt besteht, mindestens zehntausend Mal bezahlt werden. Ein eklatanteres Beispiel für Unverhältnismäßigkeit kann man sich kaum ausmalen. Man muss Paragrafen schon sehr verbiegen, um 1280 Bilder daran aufzuhängen in einem Strafverfahren, in dem der einzige greifbare Vorwurf darin besteht, dass der Beschuldigte 9000 Euro aus vermeintlich unklaren Geschäften bei sich geführt hat. Dem alten Mann ist Unrecht widerfahren.

Den Menschen, denen Gurlitts Bilder einst gehörten, ist viel, viel größeres Unrecht widerfahren. Es kann nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Und es können die Bilder, auch wenn es sich nicht um Raubkunst handelt, auch nicht einfach an Gurlitt zurückgegeben werden. Sie sind in keiner Wohnung Gurlitts mehr sicher. Die Unsicherheit der Eigentumsverhältnisse an den Bildern ereilt also nun auch die Ausübung des Besitzrechts von Gurlitt. Vielleicht ist dies eine List der Geschichte, weil sie sieht, dass Recht und Gesetz an ihre Grenzen stoßen.

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Quelle:
SZ vom 28.03.2014
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