Süddeutsche Zeitung

"Everybody's Talking About Jamie" auf Amazon Prime:In Kriegsbemalung

Lesezeit: 3 min

Jonathan Butterells Musical-Verfilmung "Everybody's Talking About Jamie" feiert den mutigen Willen zum Drag - ist aber erfreulicherweise von der Wirklichkeit überholt worden.

Von Magdalena Pulz

England, die kleine Stadt Sheffield, ein Klassenraum. In einer der hinteren Reihen am Fenster sitzt Jamie. Ein schlanker junger Mann, blaue Schuluniform, große Augen, helle Haut, die wasserstoffblonden Haare in die Stirn gekämmt, schaut er in den Regen. Seit heute ist er sechzehn Jahre alt. Passend zu dieser Zäsur geht es um die Zukunftspläne der Klasse. "Ihr könnt nicht alle Popstars werden", entmuntert die Lehrerin. Als sie dann Jamie nach seinen "realistischen Erwartungen" für seine Karriere fragt, sagt der zwar nicht direkt "Popstar", aber immerhin "Performer". Was er damit meint, sich aber noch nicht zu sagen traut, ist: Drag Queen.

Drag. Welch ein Zauber, so wunderbar spezifisch: Männer, die sich hyperweibliche Alter Egos anlegen, dabei aber nicht per se Frauen sein wollen. Die längsten Wimpern, die toupiertesten Perücken, die schönsten Kreationen. Drag Queens singen, tanzen, modeln, lipsyncen, erzählen Witze, kurz, sie entertainen. Dass 2021 im Kino "Drag Queen" als frechere Alternative für "Popstar" steht, ist aus mehreren Gründen bemerkenswert, toll - und in diesem Film vielleicht doch fehl am Platz.

"Everybody's Talking About Jamie" ist die Verfilmung eines gefeierten englischen Musicals. "It's the Jamie-Show and you don't even know", singt der offen homosexuelle Protagonist Jamie zu Beginn in einer Gute-Laune-Popnummer, der noch viele folgen werden, mit hohem Kitschfaktor. Wer ein bisschen Fluff aushält und sich in einer Underdog-Story wohlfühlt, kann sich durchaus in der Lebendigkeit, dem glänzenden Look und den erwartbaren, aber doch netten Gay-Culture-Fußnoten verlieren. Hier sieht das so aus: Junge will Drag Queen werden und seine Drag Persona auf dem Abschlussball der Schule das erste Mal der Öffentlichkeit präsentieren. Engstirnige Kleingeister in der Schule und sein Vater sind dagegen. Junge wird - welch Überraschung - trotzdem Drag Queen.

Drag hat in den vergangenen zehn Jahren Karriere gemacht. Immens

Trotz allem Zuckerguss aber knarzt etwas in "Everybody's Talking About Jamie" - die Zeit. Das Musical, auf dem der Film beruht, basiert nämlich selbst wiederum auf einer BBC-Dokumentation: "Jamie: Drag Queen at 16". Sie begleitete einen realen Jungen im Norden Englands, der im Jahr 2011 gegen alle Widerstände in Drag zu seinem Abschlussball gehen wollte, was damals viele Menschen bewegt hat. Klar, sonst hätte man ja auch kein Musical draus gemacht. Seit damals sind aber zehn Jahre verstrichen. Und da ist etwas passiert, womit keiner so richtig gerechnet hat: Drag hat Karriere gemacht. Immens.

Derzeit läuft die 13. Staffel von "RuPaul's Drag Race", einer Castingshow für Drag Queens. Ein schlicht geniales Konzept, moderiert von der legendärsten Drag Queen jemals (wenn man Marsha P. Johnson ausklammert): RuPaul, inzwischen achtfacher Emmy-Gewinner mit Stern auf dem Walk of Fame. Aus Drag Queens hat er gewinnbringende Marken gemacht - sie sind Influencer mit Millionen Followerinnen und Followern, Fashion-Ikonen, Musiker, Make-up-Artists, Comedians, soziale Kommentatoren, kurzum Superstars.

Mit heutigem Blick wundert es keinen mehr, dass der Film-Jamie Drag Queen werden will. Aus der Kleinstadt auf die Bühne, der ganz große Durchbruch und so. Das Problem ist, dass sich der Film diesem Motiv nicht komplett hingibt. Stattdessen will er eben auch noch die zweite Geschichte erzählen, die der echte Jamie erlebt hat. In der es krass mutig, ungewöhnlich, ja unerhört war, als Junge ein Kleid zu tragen, und dann auch noch auf dem Abschlussball. In der keiner so richtig weiß, was Drag eigentlich genau ist - und allein deswegen schon viele aggressiv reagieren.

Natürlich sind Homophobie und Sexismus seitdem nicht einfach verschwunden. Da kann auch Mama Ru nichts dran ändern. Was Mama Ru aber geändert hat, ist Drag. Jamies Drag-Mother und Mentor Hugo, würdevoll im Bademantel dargestellt von Richard E. Grant, sagt das sogar dezidiert: Drag Queens seien lange vor allem eines gewesen - Kriegerinnen. Homosexuelle Männer, die sich nicht versteckt, sondern sich ihre "Kriegsbemalung" angelegt und so gegen Marginalisierung gekämpft haben. "Drag ist Revolution."

Drag ist auch immer noch Revolution. Aber eben auch Industrie. Der beste Beweis dafür ist eine Wendung aus dem Leben des echten Jamie, der übrigens genauso blond und drahtig wie seine Filmimitation ist: Er, der sich allem Mobbing zum Trotz als Drag Queen geoutet hat, hat seine Drag Persona dann doch vor einem Jahr in den Ruhestand geschickt. "Der Drag-Standard ist inzwischen einfach zu hoch", sagte er im Interview mit Vice. "Wegen Drag Race und dem Internet ist jeder zum Kritiker geworden."

Dieses ambivalente Verhältnis unserer Gesellschaft zu Drag hätte sich Regisseur Jonathan Butterell vielleicht mehr zu Herzen nehmen müssen. Gerade weil Drag Gesellschaftskritik ist, und gerade weil dort alles im Umbruch ist. Will er hier im "Billy Elliot"-Stil eine bewegende Geschichte über einen Jungen mit einem sozial nicht akzeptierten Hobby erzählen - oder darf Drag der Traum vom Popstar im neuen Gewand sein? Beides geht nicht. Zumindest nicht im Zuckerguss dieses zeitgenössischen Lollipop-Soundtracks.

"Everybody's Talking About Jamie" , GB / UK 2021 - Regie: Jonathan Butterell. Buch: Tom McRae. Kamera: Christopher Ross. Mit Max Harwood, Sarah Lancashire, Lauren Patel, Shobna Gulati. Amazon Prime, 115 Minuten.

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