Süddeutsche Zeitung

Kultur im Kanzleramt:Abgründe wiedererkennen

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Es sollte eine literarische Reise durch Europa werden. Stattdessen entwickelt sich die Begegnung des Kanzlers Olaf Scholz mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu einer Abrechnung.

Von Moritz Baumann

Es ist ein Abend, der einem die eigene Naivität mit brachialer Wucht vor Augen führt. Während in Mariupol die Bomben fallen, sitzen am Montag im Berliner Kanzleramt Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus ganz Europa zusammen, mitten in der weitläufigen Empfangshalle mit ihren wuchtig-eleganten Säulen. Ursprünglich sollte es um das Verbindende gehen, die gemeinsame Kultur, das europäische Projekt. Stattdessen entwickelt sich eine Debatte über die Zerbrechlichkeit der europäischen Idee.

Staatsministerin Claudia Roth hat eingeladen: zu "Kultur im Kanzleramt". Die Schauspieler Jasmin Tabatabai und Ulrich Matthes lesen aus "Le Grand Tour" vor, einem Sammelband von Erzählungen, geschrieben von Autorinnen und Autoren aus allen 27 EU-Staaten, herausgegeben von dem französischen Publizisten Olivier Guez. Es sind Geschichten, die noch vor dem Krieg entstanden sind. Reisen in die europäische Vergangenheit, an Orte, die den Kontinent auf besondere Weise geprägt haben.

Im Publikum sitzt Olaf Scholz, der nur zu Beginn kurz das Wort ergreift, um über das Leid in der Ukraine zu sprechen. "Der Angriff gilt der Demokratie, der Freiheit und der Selbstbestimmung", sagt der Kanzler und berichtet von seiner Begegnung mit dem russischen Präsidenten, der bekanntlich viel Wert auf Geschichte legt. "Das Blättern in Geschichtsbüchern", so Scholz, habe erstmals wieder Krieg zurück nach Europa gebracht. Putin, so klingt es, lebe in der Vergangenheit.

Und wir Europäer? Wir haben in den vergangenen zehn, vielleicht auch 20 Jahren, immer weniger zurückgeblickt, schließlich schien es keinen richtigen Anlass zu geben. Europa wirkte gesättigt und zufrieden. Dem Kontinent ging es gut.

Die Erzählungen in "Le Grand Tour" hätten ein Weckruf sein können, wären sie einige Jahre früher erschienen: Die polnische Schriftstellerin Agata Tuszyńska berichtet, wie die Familie ihrer Mutter hinter den Mauern des Warschauer Ghettos lebte. Der Star-Autor Daniel Kehlmann beschäftigt sich in seinem Essay mit der Geschichte der Stasi-Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen. Und die österreichische Publizistin Eva Menasse schreibt über die Kleinstadtidylle des österreichischen Hallstatt. Knapp 20 Kilometer entfernt, in seiner Sommerresidenz in Bad Ischl, erklärte der Habsburger Kaiser Franz Joseph den Serben 1914 den Krieg. Damit begann der Erste Weltkrieg und Europa wurde zum Schlachtfeld.

NS-Diktatur, Überwachung im SED-Staat und kaiserliche Kriegsfantasien: Es sind mit persönlichen Empfindungen gespickte Erinnerungen an eine überwunden geglaubte Epoche, in der Totalitarismus, Imperialismus und Ideologie den Kontinent immer wieder, eigentlich sogar sehr regelmäßig, an den Rand des Abgrunds geführt hatten. Doch die Erinnerungen sind verblasst.

Dennoch überstieg der Gedanke an einen neuen Krieg die kollektive Vorstellungskraft

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde es ruhiger, die Verhältnisse schienen geklärt zu sein. Bis zum 24. Februar 2022, dem Tag, den Olivier Guez am Montag als "Ende einer Epoche" bezeichnet. Eva Menasse, die auch auf dem Podium im Kanzleramt sitzt, beschreibt Europa als einen Kontinent, der "unendlich viel Blut, Mord und Totschlag gesehen hat". Dennoch überstieg der Gedanke an einen neuen Krieg die kollektive Vorstellungskraft - trotz der Hallstatter Kriegserklärung, trotz des Warschauer Ghettos, trotz Hohenschönhausen.

Scholz wäre wohl froh, wenn sich der russische Präsident zuletzt nicht so viel in historische Dokumente vertieft hätte. Den Europäern, das zeigt der Abend im Kanzleramt, hätte es vielleicht gutgetan, häufiger in die Geschichtsbücher zu schauen. Die literarische "Grand Tour" durch Europa wird zum Appell, die Erinnerungen wachzuhalten. Die Kultur, da ist sich das Podium einig, kann hier ihren Beitrag leisten. "Wer die europäische Geschichte kennt, wird auch die Abgründe wiedererkennen, die furchtbaren Irrtümer, die wir überwunden glaubten", sagt Claudia Roth am Ende eines Abends, der zu einer Abrechnung mit der europäischen Gleichgültigkeit des letzten Jahrzehnts wurde.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass der Habsburger Kaiser Franz Joseph in Hallstatt den Serben den Krieg erklärte. Tatsächlich unterschrieb er die Kriegserklärung in seiner Sommerresidenz im etwa 20 Kilometer entfernten Bad Ischl.

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