Süddeutsche Zeitung

Dokumentarfilm:Wir müssen reden

Lesezeit: 3 min

Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. Welche Legitimation hat da noch der Dokumentarfilm?

Von Martina Knoben

Alles echtes Leben! Mit diesem Versprechen wirbt der Dokumentarfilm für sich. Das Label der Authentizität war immer schon ein Verkaufsargument und ist es in diesen digitalnebeligen, verunsichernden Zeiten mehr denn je. Deshalb war die Branche auch so erschüttert, als herauskam, dass die angebliche Doku "Lovemobil" zu großen Teilen inszeniert ist, die Prostituierten von Bekannten der Regisseurin gespielt wurden. Der Betrug trifft den Kern der Abmachung zwischen Dokumentarfilmern und Publikum: dass beobachtetes, nicht ausgedachtes Leben zu sehen ist.

Dieses Bild des Dokumentarischen hat nie ganz gestimmt, Abbildung ohne inszenatorische Eingriffe ist gar nicht möglich. Wie sollten "reine" dokumentarische Bilder auch aussehen? Wie die Phantom Rides der Stummfilmzeit vielleicht, als eine Filmkamera an die Spitze einer Lokomotive montiert wurde, um im Vorbeifahren die Landschaften aufzunehmen? Die Form wirkt puristisch, tatsächlich aber werden dabei die Landschaften von der vorwärtsbrausenden Kamera förmlich penetriert.

Alles kann heutzutage gefälscht werden. Deshalb ist die Sehnsucht nach Authentischem so groß

Die Position des Dokumentarfilms zwischen Fakten und Fiktion war immer ungenau und angreifbar. Zuschauer aber wünschen sich Orientierung und Sinn. "Das Publikum harrt ungeduldig der definitiven Nachrichten", schrieb schon im August 1914 die Fachzeitschrift Der Kinematograph; der Erste Weltkrieg bedeutete eine Generalmobilmachung auch für den jungen Film. Weil reale Kampfhandlungen kaum zu drehen waren - die Kameraleute wären außerhalb der Schützengräben in extremer Lebensgefahr gewesen -, wurden allerdings Nebenkriegsschauplätze hinter der Front gefilmt oder nachgestellte Kämpfe. Schon früh fand der Film auch zur Propaganda, der Krieg musste medial gerechtfertigt werden.

Heutzutage ist das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit von Bildern wackeliger denn je. In Deep Fakes, mittels KI gefälschten Bildern und Videos, agieren Figuren, die nie vor einer Kamera standen, Schauspieler werden künstlich verjüngt. Geschult in den sozialen Medien, inszenieren viele Menschen sich selbst, sobald eine Kamera in der Nähe ist. Für den Dokumentarfilm mit seinem Motto Seeing is believing ist das verheerend. Drehverbote, Eingriffe durch PR-Abteilungen und Schranken wie das Recht am eigenen Bild erschweren zusätzlich den Zugang zu vielen Themen. Wenn echtes dokumentarisches Material schwer zu bekommen ist, gleichzeitig die Grenze zwischen Original und Fälschung verschwimmt: Hat der Dokumentarfilm als Gattung womöglich ausgedient?

"Lovemobil" hat eine intensive Debatte über dokumentarisches Arbeiten ausgelöst. Sie war überfällig.

Als Antwort auf den Skandal um "Lovemobil" ist nun eine intensive Debatte über dokumentarisches Arbeiten entstanden. Sie war überfällig. Dass alle Bilder "gemacht" sind, ist eine Binsenweisheit, die aber häufig nicht mitgedacht wird. Dokus werden vor allem thematisch wahrgenommen, ihre Ästhetik gilt als zweitrangig, wird von vielen Zuschauern kaum wahrgenommen. Ihre Gemachtheit wird manchmal auch absichtlich verschleiert. "Auftraggebende Redaktionen, Filmförderungen und Festivals präferieren heute oft Erzählweisen, deren Dramaturgie ,dokumentarische Unebenheiten' möglichst eliminieren sollen", schreibt die Deutsche Akademie für Fernsehen in ihrer Stellungnahme zum Fall "Lovemobil".

Dabei sollte das Gegenteil der Fall sein. Dokumentarfilme sollten die Lücke zwischen Abbildung und Realität mitdenken, ihre Arbeitsweise sichtbar machen und so in einen Dialog mit dem Zuschauer treten. Warum steht die Kamera, wo sie steht? Mit welcher (oder wessen) Perspektive blickt sie auf die Welt? Was ist im Film nicht zu sehen, weil es nicht gefilmt werden konnte, aber wichtig wäre? Solche Hinweise gingen über die Minimalforderung, dass nachgestellte Szenen gekennzeichnet sein müssen - was in "Lovemobil" versäumt wurde - weit hinaus.

Im künstlerischen Dokumentarfilm ist eine Fülle neuer Ausdrucksformen entstanden, die dem prekären, faszinierenden Verhältnis des Dokumentarischen zur Wirklichkeit Rechnung tragen. Festivals spiegeln diese Annäherung von Dokumentar- und Spielfilmen, wenn sie, wie etwa die Viennale, ihnen keine jeweils eigenen Sektionen mehr zuweisen. Ulrich Seidl arrangiert die Einstellungen in seinen Filmen so kunstvoll tableauartig, dass klar ist, dass die Menschen in diesen Bildern nicht spontan agieren, sondern sich mehr oder weniger selbst spielen.

Andres Veiel verbindet Kino und Theater, ließ etwa in "Der Kick" (2006) zwei Schauspieler die Aussagen von Menschen nachsprechen, deren Leben durch einen Mord aus der Bahn geworfen wurde. Eine (mittlerweile sehr abgenutzte) Form hat der Showman Michael Moore populär gemacht, dessen Filme so stark um ihn selbst kreisen, dass die Subjektivität des Ganzen auf der Hand liegt. Wenn der Regisseur selbst die Quelle seiner Erzählung ist, ist auch ein Zeichentrick-Dokumentarfilm wie "Waltz With Bashir" (2008) möglich, der ein persönliches Trauma buchstäblich nachzeichnet.

Wenn Filme ihre Ästhetik gegenüber ihren Zuschauern bewusst machen, ist vieles möglich. Auch die Form des beobachtenden Dokumentarfilms, ganz traditionell, die seit den Enthüllungen über "Lovemobil" besonders genau auf Manipulationen geprüft wird. Wenn die Filmemacher hier ehrlich bleiben, schaffen sie eine Nähe zum Geschehen, die einzigartig ist und mitreißt. Einfach so abschreiben kann man Bewegtbilder als Dokumente des Faktischen jedenfalls nicht. Man denke nur an den Mord an George Floyd, den Smartphone-Videos von Passanten öffentlich gemacht hatten. Handyfilme von Polizeigewalt sind die stärkste Waffe der "Black Lives Matter"-Bewegung. Aufnahmen der Wirklichkeit, das ist die gute Nachricht, machen immer noch Politik.

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