Süddeutsche Zeitung

"Das Wunder von Marseille" im Kino:Integration auf dem Brett

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Von Philipp Stadelmaier

Als der achtjährige Junge aus Bangladesch und sein Vater in Paris ankommen, stehen sie erst mal staunend vor dem Eiffelturm. "La France! Zinédine Zidane!", sagt der Junge. Zidane ist die typische Identifikationsfigur, wenn es darum geht, was Einwandererkinder in Frankreich erreichen können. Vorausgesetzt, dass sie in irgendetwas gut sind, zum Beispiel im Fußball. Der Junge heißt Fahim (Assad Ahmed) und spielt hervorragend Schach. Sein Vater, der aus politischen Gründen aus seiner Heimat nach Frankreich floh, hat den Sohn mit in die Grande Nation genommen und versprochen, ihn einem Großmeister vorzustellen. Doch erst mal landen sie in einem Heim, wo sie einen Antrag auf Asyl stellen müssen.

Der Film "Das Wunder von Marseille" erzählt die wahre Geschichte des Schachspielers Fahim Mohammad, der 2008 nach Frankreich kam. Regisseur Pierre-François Martin-Laval bleibt dabei nah an seinen beiden Hauptfiguren, deren gefährliche Flucht nach Europa er gewissenhaft, aber unspektakulär nachzeichnet. Im Asylantenheim bringen ihm zwei Jungen aus dem Senegal Französisch bei - ein berührendes Beispiel für Freundschaft zwischen Kindern unterschiedlicher Herkunft, die in derselben misslichen Situation stecken.

Fahim kommt in eine Schule, er lernt schnell. Schließlich bringt ihn sein Vater zu einem Schachklub, in dem Sylvain Kindern Schach beibringt. Gespielt wird der Trainer von Gérard Depardieu - neben Zidane eine weitere französische Großinstitution. Der Mann ist hochgradig zynisch ("Du solltest lieber Dame spielen"), entwickelt aber für Fahim bald eine ganz unzynische Sympathie: "Keine Papiere und dann auch noch Muslim, du Ärmster!"

Depardieu hat genug gefressen, der Westen ist satt genug und Frankreich keineswegs eine Große Nation

Man muss sagen, dass Depardieu ziemlich in Form ist. Was vielleicht daran liegt, dass er, der gern Gourmets verkörpert und selbst einer ist, nur ein einziges Sandwich vertilgt, und auch das nur zur Hälfte. Als würde seine Figur auf Fahims Vater reagieren, der ihn mit den einzigen Worten grüßt, die er auf Französisch kann: "Bon appétit". Depardieu hat genug gefressen, der Westen ist satt genug und Frankreich keineswegs die Große Nation, in der alle Menschen gleich sind. "Die Schwarzen können nicht gewinnen": Diese Aussage von Sylvain ist auch als politisches Statement zu verstehen. Denn Martin-Laval verschließt seine Augen nicht vor dem Rassismus der weißen Eliten. Der Trainer des Kinderschachklubs aus einem reichen Pariser Arrondissement meint, dass "der kleine Paki" es ohne Papiere nicht weit bringen würde; einer seiner Zöglinge weigert sich, Fahim, "dem Araber", nach einer demütigenden Niederlage die Hand zu geben.

Geht es um sein Bleiberecht, hat Fahim einen Vorteil, den andere Geflüchtete und Migranten nicht haben: Er kann für Frankreich Schachtourniere gewinnen. Solche Einzelfiguren werden auch in Filmen oft als positive Integrationsbeispiele missbraucht, nach dem Motto: Wir wollen nur die besten, die anderen bleiben bitte weg. So kann ein Einzelner das Schicksal von Vielen vergessen machen. Dies geschieht hier nicht. Fahims Erfolg wird nicht als Erfolg eines Integrationsmodells präsentiert, sondern als Rettung einer Einzelperson vor der drohenden Abschiebung.

Fahim , F 2019 - Regie, Buch: Pierre-François Martin-Laval. Kamera: Régis Blondeau. Mit Assad Ahmed, Gérard Depardieu. Tobis, 107 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 12.11.2019
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