Süddeutsche Zeitung

68. Filmfestspiele von Cannes:Netflix und zugenäht!

Lesezeit: 2 min

Von David Steinitz

"Es gibt keine Situation im Leben, in der man so hässlich aussieht wie auf einem Selfie." Das verkündete Thierry Frémaux, Direktor der Filmfestspiele von Cannes, nachdem er im letzten Jahr auf dem roten Teppich vor seinem Festivalpalast permanent im Stau gestanden hatte.

Der Grund: Nicht nur die Fans an den Absperrungen lassen wie die Irren ihre Smartphones für ein Erinnerungsselbstporträt aufblitzen, sondern auch Instagram-süchtige Hollywoodstars. "Lächerlich! Grotesk!", urteilt Frémaux - weshalb für die 68. Festivalausgabe ein Selfieverbot beim Einlass zu den Galapremieren gilt. Die Ordner sind angewiesen, auch Stars mit einem freundlichen, aber bestimmten "s'il vous plaît" darauf hinzuweisen.

Dass der Cannes-Chef als Leiter des wichtigsten Filmfestivals der Welt die Zeit hat, sich um Handyfotos zu sorgen, zeugt von einer hübschen Grandezza, die man sich vielleicht nur hier, unter den Palmen entlang der Croisette, wirklich leisten kann.

Gerade weil an Cannes keiner vorbeikommt, der im internationalen Filmgeschäft mitmischen will, gibt es natürlich auch viele Neider, die jede Angriffsfläche nutzen, um Frémaux eins reinzuwürgen.

Hauptkritikpunkte dieses Jahr, mal wieder: zu wenige Frauen und zu viele Amerikaner im Programm. Und überhaupt spiele die Industrie eine viel zu große Rolle und dränge den Wettbewerb um die Goldene Palme und die diversen Nebenreihen an den Rand.

Zwei Veranstaltungen werden besonders heiß erwartet

Dabei sollte es neben dem Kuratieren eines A-Klasse Programms unbedingt auch Aufgabe eines solchen Festivals sein, sich mit der Industrie, die hinter den Filmen steckt, zu beschäftigen.

In diesem Sinne werden 2015 zwei Veranstaltungen auf dem "Marché du film", wo Filmemacher nach Geldgebern suchen und umgekehrt, besonders heiß erwartet.

Zum einen will Ted Sarandos, Chef des Streaming-Giganten Netflix, an diesem Freitag eine Grundsatzrede über die Zukunft der Filmproduktion halten. Der Chef des einflussreichsten Video-on-Demand-Dienstes im alternden Paradies der kriselnden Kinobranche? Das könnte eine explosive Mischung abgeben.

Zum anderen soll in diversen Panels über den rasanten Aufstieg Chinas zum zweitgrößten Filmmarkt der Welt (nach den USA) diskutiert werden. Ein zentrales Reizthema der Filmbranche in den letzten Monaten, weil viele Produzenten noch stark zwischen Anbiederung und Abschottung vor der neuen Filmmacht schwanken.

Eröffnet wird das Festival weiblich und französisch

Was die 53 Spielfilme angeht, die es in die offizielle Auswahl des diesjährigen Festivals geschafft haben, und von denen 19 im Wettbewerb laufen, weist Frémaux den Vorwurf, er würde Männer, Amerikaner oder überhaupt irgendwen bevorzugen, weit von sich. "Kein Festival der Welt bekommt so viele Bewerbungen wie wir", sagte er Variety. "Allein in diesem Jahr sind 1854 Filme eingereicht worden. Wir versuchen dann eine Auswahl zu treffen, die den aktuellen Zustand des Weltkinos repräsentiert - unabhängig von Herkunftsland und Geschlecht der Filmemacher."

Der Puls des Kinos scheint in diesem Jahr in Frankreich und Italien am heftigsten zu schlagen, diese Länder sind am stärksten im Programm vertreten. Weniger Hollywood-Glamour bedeutet das aber keineswegs, denn die Europäer verstehen es von Jahr zu Jahr besser, ihre Filme mit großen US-Stars zu besetzen.

Der Italiener und Cannes-Veteran Paolo Sorrentino zum Beispiel hat für sein Wettbewerbsdrama "Youth" Michael Cane, Rachel Weisz, Jane Fonda und Harvey Keitel gewinnen können. Und der Grieche Yorgos Lanthimos kann für seinen Science-Fiction-Film "The Lobster" Colin Farrell in der Hauptrolle aufbieten.

Eröffnet wird das Festival an diesem Mittwochabend aber zunächst einmal weiblich und französisch: die Filmemacherin Emmanuelle Bercot präsentiert ihre Coming-of- Age-Rabaukengeschichte "La tête haute" im Festivalpalast.

Die Hauptrolle spielt Catherine Deneuve, damit der Galaabend nicht ohne Star-Glamour auskommen muss. Und dass die elegante Kinolegende Deneuve ein Selfie schießen wird, kann man relativ sicher ausschließen.

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Quelle:
SZ vom 13.05.2015
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