Süddeutsche Zeitung

Cannes-Eröffnungsfilm mit Deneuve:Retterin der verkorksten Jugend

Lesezeit: 4 min

Als knallhartes Anti-Glamour-Werk tritt der Cannes-Eröffnungsfilm "La tête haute" an. Vollzieht dann aber eine erschreckend devote Kehrtwende.

Von David Steinitz, Cannes

François Truffaut, der große Pate des französischen Kinos, hätte vermutlich einen Herzinfarkt erlitten, wäre er am Mittwochabend im Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals von Cannes gesessen. Cannes-Chef Thierry Frémaux, der genau weiß, dass er das glamouröseste Filmfestival der Welt leitet, und sich also ein bisschen was erlauben kann, wollte dieses Jahr einen anderen Einstieg finden als sonst. Die 68. Auflage des Festivals sollte mit einem knallharten Anti-Glamour-Werk eröffnet werden, das all die Abendkleidfrauen und Smoking-Männer im Festivalpalast an der Strandpromenade erst mal ordentlich emotional durchprügelt, bevor sie zur Eröffnungsparty dürfen.

Also wählte er "La tête haute" der Französin Emmanuelle Bercot aus, die von der Kindheit und Jugend eines unzähmbaren Vorstadtjungen erzählt. Mit dreizehn klaut er sein erstes Auto und legt anschließend eine deprimierende Karriere durch alle Institutionen hin, die Sozialamt und Jugendgericht parat haben. Gefilmt ist das Ganze in zappeligen Nahaufnahmen, immer ganz nah dran an jeder Schlägerei, dazu Hip- Hop, extra laut.

Das ist in erster Linie ziemlich pseudo-provokant, und theoretisch könnte man diesen Film einfach ignorieren und auf die großen Highlights der kommenden Tage warten, die viele herrliche Kinoorgien versprechen. Hätte nicht einst der große Truffaut an selber Stelle mit demselben Thema das spießige französische Kino komplett umgekrempelt: 1959 zeigte er hier "Sie küssten und sie schlugen ihn/Les 400 coups" - und bis heute wird an diesem Film jeder neue Versuch in Sachen Jugend-Sozialdrama jenseits der Prekariatspornografie gemessen.

Der Prügelknabe bekommt die Kurve

Die legendäre Schlusseinstellung von Truffauts Film, in der der junge Delinquent Antoine Doinel aufs Meer zurennt, einen Schlenker macht und dann direkt in die Kamera blickt, war ein Zeichen des Aufbruchs, der Wildheit, auch des fröhlichen Ungehorsams gegen staatliche und elterliche Autoritäten. Wenn man mit dieser Szene im Hinterkopf in "La tête haute" sitzt, ist es richtig erschreckend, was für eine devote Kehrtwende dieser Film propagiert.

Nachdem Regisseurin Bercot die Zuschauer knapp zwei Stunden durchs Lebenselend ihres Protagonisten gezerrt hat, bekommt der Prügelknabe durch die Hilfe einer Richterin - gespielt von Catherine Deneuve - plötzlich doch noch die Kurve. In der letzten Einstellung geht er geläutert aus dem Bild, und die Kamera blickt unterwürfig von außen auf das Gerichtsgebäude, in dem die Deneuve herrscht und vor dem eine französische Flagge im Wind weht.

Bitte? Die mütterliche Deneuve als Repräsentantin eines Sozialstaats, der die einzige Hoffnung auf ein besseres Leben darstellt? Lauter kann man gar nicht mehr nach einer schützenden Mami flennen, und das ist in etwa der schlimmste Horrorfilm, den Truffaut sich hätte vorstellen können - aber so sind wohl die aktuellen Befindlichkeiten.

Dass Cannes-Zirkusdirektor Frémaux im Anschluss daran zwei Wettbewerbsfilme programmiert hat, die im Kampf um die Goldene Palme wohl keine ernsthafte Konkurrenz darstellen werden, könnte man als Seufzer der Erfahrung auslegen. Weil die paar Tausend Fachbesucher und Journalisten in den ersten 48 Stunden vor allem damit beschäftigt sind, sich auf der Suche nach Orientierung, Koffein und Wlan gegenseitig durch den Festivalpalast zu schubsen. Also fährt Frémaux an Tag zwei erst mal brave bis trashige Kost auf.

Der japanische Festivaldauergast Hirokazu Koreeda erzählt in "Umimachi Diary" von vier Schwestern und ihren kleineren und größeren Lebenssorgen, die sie hauptsächlich beim Essen besprechen. Es gibt Fisch, es gibt Suppe, es gibt Sushi und auch Reiswein - und dann sind, irgendwann, gut zwei Stunden rum. Hinterher kann man sich dann von "Tale of Tales" wieder aufwecken lassen, der den zweiten Wettbewerbstag beschließt und am besten als eine Art Game of Thrones für die ganz Perversen beschrieben ist.

Gedreht hat ihn der Italiener Matteo Garrone, der unter anderem den harten Mafia-Thriller "Gomorrha" gemacht hat. Für diesen Film hat er nun Teile des "Pentameron" von Giambattista Basile verfilmt, einer Märchensammlung aus dem 17. Jahrhundert: viele Intrigen, viel Sex, viel Witz und auch viele mutierte Insekten. Garrone hat alles zusammengetragen, was man an italienischer Filmförderung bekommen kann, und dann ein paar Stars besetzt und auf Englisch gedreht. Nun spielt beispielsweise Salma Hayek in diesem italienischen Film eine Märchenkönigin, die Englisch mit mexikanischem Akzent spricht - schöner kann man die Globalisierung der Filmindustrie gar nicht auf den Punkt bringen.

Wer ein Gegenprogramm zu dieser etwas merkwürdigen Filmmischung der ersten beiden Festivaltage sucht, der marschiert in den Keller des riesigen Festival-Palastes. Dort findet der "Marché du film" statt, eine der größten Filmmessen der Welt, wo Produktionsfirmen an Hunderten kleinen und großen Ständen ihre Ware loswerden wollen. Wenn man den oberen Teil des Palastes mit seinen ehrwürdigen Kinosälen und Hallen für die Pressekonferenzen als eine Art Über-Ich des Weltkinos begreift, wo Traditionen und Autorenfilmer gepflegt werden - dann ist der "Marché du film" das fiese Es des Kinos.

Im Angebot: astreiner Trash

Hier gibt es ein bisschen Hochglanzware, vor allem aber die Rechte an astreinem Trash zu erwerben, der in den meisten Fällen nie ins Kino kommt, sondern direkt als DVD oder Video-on-Demand ausgewertet wird. Apropos Video-on-Demand: In diesem Jahr sind die Verkäufer an ihren Ständen noch ein bisschen ralliger als sonst, denn: Er wird kommen und vielleicht genau an ihrem Stand haltmachen. Netflix-Chef Ted Sarandos hält am Freitag nicht nur eine Rede über die Zukunft der Filmproduktion, sondern will auch ordentlich shoppen. Und ein Netflix-Deal ist, wie die Vertreter einem aufgedreht ins Gesicht schreien, so ziemlich das Coolste, was man sich derzeit vorstellen kann.

Zum Schluss: Mit der Rolltreppe zurück nach oben, ins Über-Ich des Festivals, zur Pressekonferenz der Wettbewerbsjury. Dort sitzen die Regie-Brüder und Juryvorsitzenden Joel und Ethan Coen vor ihren Mikros im Blitzlichtgewitter und schauen mürrisch. Einmal, weil sie eigentlich immer mürrisch schauen, was aber gar nicht schlimm ist, weil das eine nette Abwechslung zu den Grinsekatzen auf dem roten Teppich darstellt. Besonders mürrisch aber schauen sie, weil so viele Journalisten wissen wollen, wie sie das denn fänden, diesen Netflix-Hype und all die coolen US-Serien und das Binge-Viewing und überhaupt.

"Wissen Sie", erwiderte daraufhin Ethan Coen, der jüngere Bruder: "Ich habe mir seit Jahrzehnten keine einzige Fernsehserie mehr angeschaut." Sprach's, und zog los, um sich ein paar anständige Kinofilme anzusehen.

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