Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Die Knochen werden es nicht herausfinden

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Hannah Jadagu singt über Gewalt gegen Schwarze Frauen. "Cabaret Voltaire" zeigen, dass die Industrie lebt, und Alan Vega kommt noch mal aus dem Jenseits zurück.

Von Juliane Liebert

Im Literaturbetrieb gibt es die Bezeichnung "writer's writer" für Autoren, die von ihren Kollegen verehrt werden, einem breiteren Publikum aber meist unbekannt sind. Dem Phänomen begegnet man auch in der Musik. Cabaret Voltaire aus Sheffield sind so eine "musician's band". Ihr Genmaterial steckt im britischen Techno wie in Trent Reznors Nine Inch Nails. Nicht umsonst nach dem berühmten Treffpunkt der Dadaisten in Zürich benannt, standen sie von den Anfängen in den Siebzigern an für elektronische Klangexperimente zwischen wildem Gefiepe und profundem Maschinenlärm. Man kann das Industrial nennen, aber dann war es eine Industrie, die feinste musikalische Rube-Goldberg-Maschinen herstellte.

Dabei blieb es - im Laufe der Jahre wurden sie höchstens ein bisschen tanzflächenkompatibler. Mitte der Neunziger war dann erst einmal Schluss. Nach einem Vierteljahrhundert Pause veröffentlichte Richard H. Kirk als einziges verbliebenes Bandmitglied 2020 mit "Shadow of Fear" ein vielgelobtes neues Studioalbum, an das in diesem Frühjahr drei EPs anschließen. "Shadow of Funk" (Mute) enthält drei metallkalte, clubtaugliche Tracks. Nervöse Stotter-Synthies, U-Boot-Sonar-Loops, elektronisches Sägen. Die Industrie lebt. Radikaler geht es auf "Dekadrone" und "BN9Drone" zu, einstündige Drone-Tracks, die von Endzeitrauschen zu melodischem Tinnitus und mächtigen Computergesängen und wieder zurück morphen. Wenn man die Träume der gewaltgewöhnten, liebesbedürftigen Cyborgs aus dem Computerspiel "Cyberpunk 2077" vertonen würde - so könnten sie klingen.

Auf der anderen Seite des Atlantik - oder in einer anderen Bucht derselben Ursuppe - werkelte damals das Duo Suicide an der Überwindung der in Posen erstarrten Rockmusik. Auch hier lernten die Drumcomputer gerade laufen und die Synthesizer, dass sie, wenn nötig, Mächte der Hölle darstellen können. "It's Doomsday" verkündete Sänger Alan Vega damals. Er konnte sich inmitten der Geräuschapokalypse aber auch ans romantische Neonlicht erinnern und die Zärtlichkeit eines Mädchens erbitten. Nun erscheinen Soloaufnahmen des 2016 verstorbenen Sängers von 1995/96. Acht Songs finden sich auf "Mutator" (Sacred Bones/Cargo) und sie sind warmherzige Experimente. Was nicht nur an Vegas Bariton liegt, sondern auch daran, dass die Liebe zu New York durch die künstlichen Klangwelten weht.

Beatles-Vergleiche sind in der Regel tödlich. Deshalb ersparen wir sie den Briten von Field Music. Die Harmoniegesänge und die kompositorische Heiterkeit auf "Flat White Moon" (Memphis Industries/Indigo) erinnern dennoch gelegentlich an ... nein, wir haben nichts gesagt. Luftige, crunchige Gitarren gibt es jedenfalls. Eine Kopfstimme für liebliche Melodien. Ab und an ein Cello. Klaviertupfer als Grüße aus der Minimal Music. "There's no Pressure" heißt ein Song und beschreibt damit Field Musics britische Indiepop-Wertarbeit ziemlich treffend. Manch einem mag's auf diesem Mond ein bisschen zu beschaulich zugehen. Andererseits soll es Berghain-Stammgäste mit Landsitz in der Uckermark geben. Industrial 4.0 und frische Feldmusik können sich gegenseitig ergänzen. Wer im Cabaret Voltaire die Grenzen des Wahnsinns austestet, muss deshalb nicht die Verlässlichkeit des Wiener Kaffeehauses geringschätzen.

Hannah Jadagu ist 18, schwarz, lebt in New York und macht iPhone-Indie. Nein, das ist keine Musik, die zur Untermalung von Apple-Keynotes geschrieben wurde, Hannah Jadagu produziert ihre Tracks angeblich nur mit ihrem Telefon. Und dort, in diesem Telefon, scheint es trotz Lockdowns keineswegs klaustrophobisch zuzugehen. Der Hall ist weit wie das Herz. Die Stimme hell und zart. Die Lyrics sinnieren über das Erwachsenwerden, aber nicht nur. "What is Going On?" (Sub Pop Records), wie die Debüt-EP heißt, ist im Pop spätestens seit Marvin Gaye ja immer eine politische Frage. Der zugehörige Song ist jedoch kein wütendes Statement zur gesellschaftlichen Situation in den USA, sondern handelt von den Unsicherheiten des Verliebtseins. Aber das Politische bleibt in der individuellen Coming-of-Age-Erfahrung als Echo hörbar. Und gleich der Opener macht klar, dass Hannah Jagadus friedvoller Musikstil nicht mit Harmlosigkeit verwechselt werden sollte: "You could take my bones and place them home, they won't find out", singt sie mit sich selbst im Chor - und bezieht sich damit auf die Gewalterfahrungen schwarzer Frauen.

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