Süddeutsche Zeitung

Bayreuther Festspiele:Diese Entscheidung ist ein Fanal

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Die Bayreuther Festspiele finden in diesem Jahr coronabedingt nicht statt. Das ist vernünftig. Nun kann und sollte über den Klassikbetrieb neu nachgedacht werden.

Von Reinhard J. Brembeck

Es wird in diesem Jahr keine Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth geben und damit auch keine Neuinszenierung des vierteiligen "Ring des Nibelungen", die zwei Newcomer erarbeiten hätten sollen, der Dirigent Pietari Inkinen, er wird am Monatsende 40 Jahre alt, und der 30-jährige Regisseur Valentin Schwarz. Die Mitteilung auf der Homepage des Festivals ist lapidar. Angesichts der "jetzt bereits eingetretenen Auswirkungen der Coronakrise" auf den Betrieb, habe man sich "bedauernd" dazu entschlossen, die diesjährigen Festspiele auszusetzen. Das ist kein einsamer Entschluss der Festspielleiterin Katharina Wagner. Der Entschluss wird mit getragen von den geldgebenden vier Gesellschaftern, den Wagner-Freunden, der Stadt, dem Land Bayern, der Bundesrepublik.

Bayreuth findet nicht statt. Diese Entscheidung ist ein Fanal. Während andere Opernhäuser noch immer auf die Freigabe des Betriebs in dieser Saison harren und manche auch ein wenig schon dafür proben, zieht Bayreuth die Reißleine. Die Proben für immerhin sieben Opern ("Ring", "Tannhäuser", "Lohengrin", "Meistersinger") hätten bald beginnen müssen, was sehr viele Menschen, Techniker, Handwerker, Musiker, auf sehr engem Raum in Bayreuth bedeutet hätte. Das ist derzeit unmöglich. Bayreuth lässt sich jetzt auch nicht ein darauf, vage auf das von allen Menschen erhoffte Wunder zu vertrauen, dass sie eines nicht allzu fernen Morgens erwachen und die Seuche verschwunden, zumindest aber zu einer Harmlosigkeit geschrumpft sein wird.

Bayreuth ist so realistisch und vernünftig, wie es zuvor die lange an der geplanten Premiere festhaltenden Passionsspiele in Oberammergau waren, die sie dann kurzerhand um zwei Jahre auf 2022 verschoben haben. Auch der neue Bayreuther "Ring" wird frühestens 2022 auf die Bühne kommen. Zum Leidwesen Katharina Wagners, der Musiker, des Publikums, der Bayreuther Gaststätten- und Herbergsbetreiber.

Jährlich wird in Bayreuth erst seit 1951 gespielt. Schon nach dem Hauseröffnungsjahr 1876 mit dem "Ring" ging Richard Wagner das Geld aus. Erst 1882 fanden die zweiten Festspiele statt, in der Folge gab es immer wieder Jahre ganz ohne Festspiele. Bedingt durch den Ersten Weltkrieg entstand eine neunjährige Lücke, im Zweiten Weltkrieg konnte nicht zuletzt wegen der Nähe zu Adolf Hitler bis 1944 gespielt werden. Die Wiedereröffnung des Hauses fand 1951 statt.

Kein Streaming kann ersetzen, was den besonderen Reiz der Festspiele ausmacht

In den vergangenen 70 Jahren hat sich Bayreuth einen Sonderstatus unter den großen Musikfestivals erworben. Es ist nach wie vor Weihestätte des von vielen, auch musikfernen Menschen als größtes Komponisten- oder zumindest Operngenie verehrten Wagner. Bayreuth versucht zudem mit nur einer Premiere pro Saison, das Risiko des Scheiterns ist dabei riesig, seinem größten Konkurrenten, den Salzburger Festspielen, Paroli zu bieten. Mit Christian Thielemann als Hausdirigenten und einer gerade in Regiefragen kühnen und experimentierfreudigen Festspielleiterin hat es sich in den letzten Jahren damit gut gehalten. Jetzt führt es auch mit der frühen Absage des Spielbetriebs. Die Salzburger Festspiele, die dieses Jahr ihr 100. Jubiläum feiern wollten, warten noch ab und auf ein Wunder.

Nun mag die Bayreuth-Absage vernünftig, realistisch und nichts Neues sein. Sie hat dennoch eine enorme symbolische Bedeutung, gerade weil Bayreuth so ein eigenartiges und einzigartiges Klassikbiotop ist. Die Bayreuth-Absage nimmt vielen und nicht nur den musikbegeisterten Menschen zumindest ein wenig von der Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit eine Rückkehr zur Normalität geben könnte. Diese Hoffnung, so illusorisch sie sein mag, ist für die Menschen derzeit extrem wichtig. Gerade im Theater und in der Klassikszene, die als einer der ersten Bereiche von den Einschränkungen betroffen waren und die vermutlich auch als letzte von ihnen befreit werden dürften. Womöglich erst nach einer Übergangszeit, man stelle sich vor: mit einem Solisten vorn auf der Bühne und kleinem, schütter im Raum verteilten, auf Abstand geeichten Publikum.

Doch gerade darin, dass die Bayreuther Festspiele jetzt diese Hoffnung auf Normalität um mindestens ein Jahr verschieben, liegen auch Stärke und Menschlichkeit dieser frühen Entscheidung. Zentral für Live-Aufführungen ist die Nähe. Das gilt gerade für Bayreuth. Schon vor den Aufführungen ist bei der Pilgerschaft des Publikums auf den Grünen Hügel Nähe nicht zu vermeiden. Die Absperrung um das Haus, die im Zuge der Terrorabwehr vor ein paar Jahren errichtet wurde, pfercht das Publikum genauso zusammen wie das 2000-Sitze-Haus. Noch beengter sitzen die Musiker im berühmten Orchestergraben und bei manchen Chorszenen wirkt die riesige Bühne mehr als überfüllt.

Das sind keine Marginalien, sie sind wesentlicher Bestandteil von Wagners Bühnenästhetik. Seine musikalischen und oft fragwürdigen philosophischen wie gesellschaftstheoretischen Botschaften kann er eben am besten in der Provinz entfalten, vor einem in der Hitze des Festspielhauses eng aneinander sitzenden Publikum, das so zu einer Schicksalsgemeinschaft geschmiedet wird. Das macht einen Gutteil des singulären Bayreuth-Reizes aus.

Genau das aber ist jetzt nicht möglich. Genau das lässt sich durch ein Streaming nicht ersetzen. Ganz abgesehen davon, dass die Musiker und Sänger dabei im Zuschauerraum verteilt werden müssten, um den neuen Goldstandard der Ferne, 1,50 Meter, einzuhalten.

Bayreuths Entscheidung mag die Hoffnung rauben auf ein baldiges Ende der Seuche, auf eine baldige Rückkehr zur Normalität. Allerdings birgt diese Entscheidung auch die Chance zum Nachdenken über den Klassikbetrieb, der zuletzt immer stärker der Kommerzialisierung und der Effizienz unterworfen war. Was ist seine Besonderheit? Geht es in Bayreuth und in der Klassik generell noch um mehr als Unterhaltung? Bringt die Seuche nicht auch die Möglichkeit mit sich, tiefer auf die alten Meisterwerke zu schauen, die schon Antonin Artaud auf dem Schrottplatz der Geschichte entsorgen wollte? Fragen über Fragen. Die Zäsur, die jetzt Bayreuth durch seine Selbstabsage schafft, könnte ideal sein, auf solche und ähnliche Zweifel Antworten zu finden.

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Quelle:
SZ vom 02.04.2020
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