Süddeutsche Zeitung

Barocktage der Berliner Staatsoper:In Menschengewittern

Lesezeit: 3 min

Die Berliner Staatsoper unter den Linden eröffnet ihre Barocktage mit André Campras "Idoménée". Und liefert gleich den ersten fulminanten Höhepunkt des Festivals.

Von Helmut Mauró

Barocktage gibt es praktisch weltweit, nicht allen ist maximale Aufmerksamkeit beschieden, nicht einmal jenen an der Berliner Staatsoper unter den Linden. Obwohl sie mit neun Tagen Dauer fast schon Barockwochen sind und mit großartigen Konzert- und Opernaufführungen locken. Hierzulande noch immer etwas unterbelichtet: das schier überbordende Geschehen am Hof Ludwigs XIV., der ja selbst als Tänzer auftrat und das barocke Musiktheater zu Glanz und Gloria verhalf. Die Lindenoper hat sich diesmal also ganz dem Sonnenkönig verschrieben und bringt Philippe Rameaus "Hippolyte et Aricie" in der Bühnenfassung des prominenten interdisziplinären Experimentalkünstlers Ólafur Eliasson, Christoph Willibald Glucks "Orfeo ed Euridice" - auch er ein opernreformierender Kulturfranzose - und gleich zu Beginn die vielleicht spannendste Produktion: "Idoménée" von André Campra nach dem Libretto von Antoine Danchet. Klingt erst mal nur deshalb interessant, weil Wolfgang Amadeus Mozart die Geschichte als "Idemeneo" vertont hat - seine erste große Oper, uraufgeführt 1781 in München. Allerdings nach einem Libretto von Giambattista Varesco, und das hat mit der Barockoper von Campra nicht mehr viel zu tun.

Was unter anderem auch daran liegen mag, dass Varesco ein Geistlicher war und dem Neuen Testament näherstand als der griechischen Tragödie. Er legt den Schwerpunkt auf Gerechtigkeit und Nachsicht, Mozart erfasst sofort den emotionalen Gehalt des Stoffes, verstärkt musikalisch die Seelendramaturgie, ermöglicht die große menschliche Entwicklung der Charaktere. Im barocken Musiktheater läuft das anders. Da geht es um die Unausweichlichkeit des Schicksals, den großen Weltenplan. Die Begnadigung eines unschuldig in Not geratenen Erdenmenschen ist dabei viel zu klein, will man das Große darstellen. Der Barock scheint dem antiken Denken näher zu sein mit all den stilisierten Charakteren und beistehenden Pappkameraden, die wie Gefühlsautomaten funktionieren und ihr Herz virtuos auf der Zunge tragen.

Das dramatische Geschehen ist nicht auf der Oberfläche sichtbar, da wirkt vieles statisch. Die eigentliche Spannung entsteht in der tragischen Konstellation der Figuren, im Aufeinandertreffen gegensätzlicher Charaktere, unterschiedlicher Machtpositionen und Interessen, auseinanderdriftender Schicksale und, als Höhepunkt, die Wiederbegegnung, die Erkennungsszene, die Selbsterkenntnis im anderen. Das ist nicht weniger psychologisch komplex als in Mozarts Handlungsopern und erst recht den späteren vorgeblich realistischen Musiktheaterformen, es erfordert nur eine andere Sichtweise.

Der König muss zur Strafe weiterleben

Der Regisseur Àlle Ollé von der legendären wilden Theaterakrobatik-Gruppe La Fura dels Baus macht es dem Zuschauer leicht. Mit einem Bühnenbild aus schemenhaft verführerischen Hologrammen zieht er den Betrachter in den Tiefenraum, barocke Braun-Blau-Töne dominieren, die damals spektakuläre Bühnenmechanik imitiert er elegant durch digital erzeugte Bilderwelten. Manchmal gibt es lustige Kostüm-Kontraste, Menschen in modernen hellen Anzügen und Cocktail-Kleidern, in halb offenen Mänteln mit Strapsen darunter. Wichtiger aber ist die Musik, die von der Dirigentin Emmanuelle Haim äußerst präzise in Szene gesetzt wird, im Verlauf vielleicht etwas zu ordentlich und zu wenig anfeuernd. Denn so sehr ein barock komponierter Sturm auf die inneren Menschengewitter zielt, so sehr sollte er doch auch ganz unmittelbar wirken dürfen. Zumal wenn der Gott der Winde bei der Rache an den Griechen helfen soll, die gerade Troja erobert haben. Das Schiff des kretischen Königs Idoménée (zumindest in der Tiefe ausbaufähig: Tassis Christoyannis) gerät in Gefahr, Sohn Idamante (steigert sich im Verlauf des Abends: Samuel Boden) bangt um das Leben des Vaters, Elektra (energisch: Hélène Carpentier) zittert um die versprochene Ehe mit dem Sohn.

Natürlich ist die Sache viel komplizierter, und zwei sich überkreuzende Liebesgefühlsverhältnisse sind barocker Standard. Rachegöttin Nemesis bringt Idoménée am Ende dazu, seinen Sohn zu töten, verhindert seinen anschließenden Suizid. Der König muss weiterleben und leiden. Es gibt keinen jubelnden Schlusschor, nur bestürzte tiefe Traurigkeit. Solcherlei gelingt Haim gut, nur die Stürme des Lebens kommen oft ein bisschen zu harmlos vom ansonsten fabelhaften Ensemble "Le Concert D'Astre", dessen klangliche Größe und Finabstimmung fasziniert. Haim nimmt große Rücksicht auf die nicht immer durchschlagenden Sänger, hält das Orchester oft zurück und bremst sich selbst auch rhythmisch aus. Am besten ist sie mit dem Orchester allein: vital, energisch, freudig gespannt, ohne Rücksicht auf die Sänger nehmen zu müssen.

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