Süddeutsche Zeitung

Ballett:Bar jeder Eitelkeit

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Simon Murray ist seit 2002 Korrepetitorbeim Bayerischen Staatsballett. In der "Kameliendame"spielt er indes auf großer Bühne

Von Rita Argauer

Auf der Bühne des Nationaltheaters sitzt im hellen Sommeranzug mit Strohhut und Koteletten Simon Murray am Flügel und spielt Chopin. Im Alltag unterscheidet sich der beinahe punkig an Augenbraue und Zunge gepiercte Murray, der in Sneakers und T-Shirt an fast jedem Werktag um zehn Uhr morgens im großen Ballettprobensaal spielt, eklatant von Jürgen Roses pudriger Bühnenwelt in John Neumeiers "Kameliendame". Und auch die Musik, die er im Training zu Plié und Tendu, zu Rond de Jambe und den großen und kleinen Allegros spielt, ist anders. Doch der Stil seines Klavierspiels bleibt unverkennbar - in den seltenen Momenten auf der Bühne genauso wie im Alltag im Ballettsaal: ein wenig beiläufig, sehr locker, die Tänzer anstoßend, ohne sich selbst solistisch in den Vordergrund zu drängen.

Wo lernt man so etwas? In Murrays Fall, der seit 2002 Korrepetitor beim Bayerischen Staatsballett ist, nicht an einer Musikhochschule, sondern in einer Bar. Das überrascht nur aufs erste Hören, denn ein guter Barpianist muss eben beinahe die selben Eigenschaften haben wie ein guter Ballettkorrepetitor: spontan Stimmungen im Raum aufnehmen und in Musik übersetzen. In Murrays Fall, der Musikwissenschaft studierte und privaten Klavierunterricht nahm, waren das nach dem Studium Anfang der Neunzigerjahre erste Jobs in Weinlokalen und Hotelbars in Birmingham. Eine der Bars, in denen er spielte, war das Stammlokal des "Birmingham Royal Ballet". Ein Ballettmeister habe ihn damals angesprochen: "Wenn Du das machst, dann kannst Du auch fürs Ballett spielen." Und genau das machte er dann auch - zunächst Training und langsam auch Repertoire.

Das Repertoire-Spiel ist dabei noch mal eine andere Geschichte. Korrepetitoren begleiten auch die Proben. Und da müssen sie die technisch höchst schwierigen Klavierauszüge der Orchesterpartituren spielen. Das muss man richtig üben. Doch: "Training ist das schwierigste", erklärt der gebürtige Brite. Denn im Training ist der Pianist so etwas wie eine lebendige, empfindsame und äußerst aufmerksame Stereoanlage. Der Pianist muss spontan die passende Musik zu den einzelnen Übungen erfinden. Er gibt dem Training dabei eine viel lebendigere Energie als eine starre CD-Aufnahme. Aber als Musiker befindet er sich in einer seltsamen Mischung aus Unauffälligkeit und bedingungsloser Aufmerksamkeit.

"Das ist eine Kunst, keine Wissenschaft", sagt Murray. So senke er etwa das Tempo, wenn die Herren ein Allegro tanzen, weil die eben höher springen als die Damen. Oder aber er dehne den Takt, wenn er sehe, dass eine Tänzerin drei Pirouetten statt einer drehe. Für Tänzer ist das eine ungeheure Hilfe und Stütze. Musik und Tanz können so zu einer organischen Einheit werden und zu einer Kunstform verschmelzen; auch wenn der Pianist dabei selten im Rampenlicht steht.

Ob das nun ein dankbarer Job ist, sei dahingestellt, ein bewundernswerter ist er allemal. Da steht etwa Ivy Amista, erste Solistin und auch Trainingsmeisterin, an einem Morgen vor den Tänzern und murmelt in französisch-englischem Gemisch Vokabeln und Zahlen, die für Nicht-Kenner nicht zu entziffern sind. Murray aber liest daraus das Tempo, den Charakter, die Länge und die Phrasierungen der Musik, die er gleich aus dem Stegreif dazu spielen wird. "Man muss beim Tempo immer 15 bis 20 Prozent abziehen", erklärt er, die Trainer sprächen meist schneller als die Übung letztlich ausgeführt werde. Und besser als reine Klassik funktionieren etwa Musicalsongs, die seien "mehr quadratisch komponiert", also in den Strukturen einfacher und gerader als etwa ein Chopin-Nocturne. Deshalb lassen sich Stücke wie "I feel pretty" oder "One" aus "A Chorus Line" leichter an die Ballett-Exercises anpassen. Manchmal inspiriere ihn aber auch ein Popsong, den er am Morgen im Radio gehört habe, erklärt Murray. Der Korrepetitor setzt also im Ballettsaal eine musikalische Idee beinahe in Echtzeit um.

Ballettkorrepetition unterscheidet sich dabei doch sehr von Gesangskorrepetition. So reicht es bei Opernproben zuzuhören und zum Gesang zu spielen. Beim Ballett muss der Musiker auch visuell auf die Körper der Tänzer achten. "Ballett wird im Gegensatz zur Oper oft als zweite Wahl betrachtet", sagt Murray, der es für sich jedoch toll findet, hier seine Nische gefunden zu haben. Die Ballettkorrepetition sei eine Technik, die an keinem Konservatorium gelehrt werde. Die bekommt man nur durch Erfahrung.

Murray sammelte die nach Birmingham in London, wo er Musicals begleitete und im Sadler's Wells Theatre spielte. Bei einem Gastspiel des Bayerischen Staatsballetts dort fiel er Stefan Moser auf. Der lud ihn zum Vorspiel nach München ein. Danach hatte er den Job. "Ich wollte aus London raus", sagt er. München hingegen hält er seit beinahe 20 Jahren die Treue.

Genauso wie der "Kameliendame". Sein Debüt als "Pianist" in Neumeiers dramaturgisch collagierter Version von Dumas' Roman gab er 2004. Seitdem hat er jede Vorstellung gespielt, insgesamt 57 Mal. Im Prolog klimpert er ein bisschen herum. Der richtige Auftritt folgt im zweiten Akt, in der Szene auf dem Land: Walzer und Eccosaises, also beschwingte Tanzmusik, die aber unter Chopins Feder auch anspruchsvolle Kunstmusik ist. Hier wird der Unterschied von Murrays Spiel zu dem eines Konzertpianisten deutlich. Denn wenn Dmitry Mayboroda die Musik nach Murrays szenischem Auftritt auf der Bühne aus dem Graben heraus übernimmt, hört man das technisch perfektionierte und brillante Spiel eines Solisten. Murray aber spielt nahbarer und im besten Sinne tanzbarer.

"Wenn's schlecht klingt, sieht's auch schlecht aus", das sei immer sein Mantra gewesen, sagt er und zeigt damit: Er spielt gut, damit die Tänzer besser tanzen. Und ein Künstler um der anderen Kunst wegen zu sein, das ist eine große Kunst.

Die Kameliendame mit Simon Murray, nächste Vorstellung: Freitag, 14. Februar, 19.30 Uhr, Nationaltheater, Max-Joseph-Platz 2

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Quelle:
SZ vom 14.02.2020
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