Süddeutsche Zeitung

Ausstellung zur Sexualmoral:Zwischen prüde und pervers

Lesezeit: 3 min

Nackte Titelmädels und pädagogische Kissen: Wie hat sich die kollektive Scham der Deutschen gewandelt? Eine kluge Ausstellung in Bonn gibt Antworten - die auch mal ganz schön wehtun.

Von Rudolf Neumaier

Die deutsche Scham pendelt sich irgendwo zwischen Schlüpfer und String-Tanga ein. Als der Spiegel Mitte Mai mit dem Titel "Mein Sex!" der weiblichen Lust auf den Grund ging, streifte er seinem Cover-Girl ein Satin-Oberteil über. Dabei war es vor wenigen Jahren, als die Bild-Zeitung noch das tägliche Busenwunder auf Seite 1 feierte, selbstverständlich, solche Themen mit möglichst viel Haut in den Kiosk zu knallen. Brüste und Hintern waren Verkaufsgaranten, auf welche die Seismografen des Zeitgefühls, die Magazin-Macher nun mal sind, heute gern verzichten. Will man nicht mehr sehen. Hat sich ausgereizt. Die kollektive Scham ist auf Schlüpfer-Kurs.

Kopfkissensprüche von einst: "Wenn dich böse Buben locken, bleib zuhaus und stopfe Socken"

Diese Scham ist nichts anderes als eine Norm. Und wie diese Norm in Deutschland schwankte in den letzten 60 Jahren, zeigt das Bonner Haus der Geschichte in einer klug gemachten Ausstellung. "Schamlos?" heißt sie. Teilweise tut sie weh: und zwar in den Sektionen, in denen sie vorführt, wie die Scham unterging, weil ein Teil der Gesellschaft wie in einem Tobsuchtsanfall alle Normen niederriss. Wie in den Siebzigern plötzlich Kinder sexuell befreit werden sollten. Sechsjährige!

Jürgen Reiche, der Urheber dieser Ausstellung, erinnert sich selbst, wie er sein Kind einem von diesen Berliner Kinderläden anvertraute und dann bestürzt (und beschämt!) feststellen musste, dass Mädchen und Buben splitternackt spielten und dabei ihre Sexualität ausleben sollten. Für ein "Habt ihr sie noch alle!?" stempelten einen die diensthabenden Pädagogen zum Reaktionär ab. Es waren die Jahre, als sich bei den Grünen unter der Tarnkappe der Progressivität Päderasten tummelten und der Psychologe Helmut Kentler in der Zeit Dinge schrieb wie: "Warum leugnen oder unterbinden wir die frühkindliche Onanie, warum tun wir nichts, um dem kleinen Kind zum Verständnis seiner sexuellen Empfindungen zu verhelfen?"

Deutschland in den Siebzigern - eine wundersame Zeit. Aus dem Blickwinkel der heutigen, zum Glück weiterentwickelten Sexualmoral kann man nur lachen über die liebestollen Studenten, die sich mit der Parole "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" das Leben schön machten. Oder man muss sich schämen für die brutale Naivität: Die Scorpions brachten 1976 das Album "Virgin Killer" heraus, auf dem eine nackte Zehnjährige zu sehen war. Und ein Jahr später kam der Spiegel mit einer Titelgeschichte über "Kinder auf dem Sex-Markt" und präsentierte ohne Scheu nackte Kinder, die ihre Geschlechtsteile in die Kamera reckten. Die Bonner Ausstellung zeigt das Spiegel-Cover "Die verkauften Lolitas", klebt jedoch eine schwarze Abdeckung über die Scham des elf Jahre alten, aber bereits pubertierenden Mädchens, das mit halterlosen Strümpfen posiert. Ansonsten nackt. Niemand würde heute noch solche Bilder drucken - nicht einmal gepixelt.

Eine Anklage ist die Ausstellung nicht, und Urteile müssen die Besucher selbst fällen. Aber dazu erläutert sie ihnen die Vorgeschichten. Den Schambegriff definierte die Kirche, vor allem die katholische. Der Papst verurteilte die Pille. Seine Priester drohten mit Fegefeuer und Hölle. Das rechtfertigte erzieherische Gewalt an unbotmäßigen Kindern. Wer auf Kopfkissen schlief, die mit Sprüchen wie "Gott sieht alles" und "Wenn dich böse Buben locken bleib zuhaus und stopfe Socken" bestickt sind, ließ die Hände über der Decke und betete fromm bis zum Einschlafen. Um ein paar Jahre später verklemmt in eine der Pornobuden zu laufen, die wegen der extrem hohen Nachfrage aus dem Boden schossen wie Löwenzahn im Mai. Die Ausstellung stellt die sexuelle Befreiung als Eruption dar, und das ziemlich nüchtern.

Und dennoch hat sich die Amplitude zwischen prüde und pervers in Deutschland vergleichsweise schnell verringert. Als Roxy Music im Jahr 1974 mit der Platte "Country Life" herauskam, gab es zwei Versionen, eine europäische und eine amerikanische. Auf dem europäischen Cover sind zwei halbnackte Frauen vor einem Strauch zu sehen, auf dem amerikanischen der Strauch. Wo's intim wird, zensieren die Amerikaner gerne. Facebook löschte Gustave Courbets "Der Ursprung der Welt", ein Bild aus dem Jahr 1866, das ein französischer Lehrer gepostet hatte. Courbet malte einen weiblichen Schoß. Andererseits: Es käme wohl auch in Deutschland keinem Blattmacher in den Sinn, das Gemälde in einer Zeitung zu zeigen.

Die Gesellschaft wirkt gerade ziemlich erwachsen und aufgeklärt

Das Geschäft mit der Prostitution blüht: 14,6 Milliarden Euro Jahresumsatz. Und laut einer vom Haus der Geschichte aufgeführten Statistik rufen mehr als die Hälfte aller deutschen Männer und jede zehnte Frau mindestens ein Mal pro Woche Pornografie-Seiten im Internet auf. Sie leben ihre Sexualität virtuell aus. Umso größer ist der Überdruss und vielleicht auch die Scham, wenn Sexualität öffentlich dargestellt wird: Sexy ist out, schlüpfrig war gestern. In ihrem öffentlichen Erscheinungsbild wirkt die Gesellschaft gerade ziemlich erwachsen und aufgeklärt.

Die Gleichstellung Schwuler bekommt sie sicher auch noch hin. Die Exponate der Diskriminierung lassen den Betrachter erblassen: Fotos aus einer Hamburger Bahnhofstoilette zum Beispiel, die belegen, wie die Polizei hinter spanischen Spiegeln Männer beim Fummeln beobachtete und dann Betretungsverbote ausstellte. Man schämt sich - für diese Sittenwächter.

Schamlos? Sexualmoral im Wandel. Haus der Geschichte, Bonn. Bis 14. Februar. www.hdg.de/bonn

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2528519
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.06.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.