Süddeutsche Zeitung

Zweite S-Bahn-Stammstrecke:München leidet am Tunnelblick

Lesezeit: 4 min

Wird am Milliardenprojekt festgehalten, hat die Stadt für lange Zeit keine Spielräume mehr, um den ÖPNV zu ertüchtigen oder gar den Nord- und Südring auszubauen.

"Es droht das nächste Milliarden-Desaster" vom 29. November, "Unterirdisch" vom 24. November:

Neue Chance - ohne Tunnel

Die zweite Stammstrecke ist ein Festschmaus für die Tunnelbauer und ein Desaster für die ausgeplünderten Steuerzahler, beides jahrzehntelang. Aber sollte man angesichts der Doppelverschwendung von Zeit und Geld nicht das Versagen der Tunnelkönige wenigstens jetzt einsehen und einen vernünftigeren, oberirdischen Neuanfang wagen? Die verkehrstechnisch erwiesene Schwachstelle der ersten Stammstrecke wird besinnungslos wiederholt - dieser Tunnel-Pfropf 2.0 ist die planerische Schwachstelle der zweiten Stammstrecke. Der Denkfehler liegt bei der Priorisierung der Transportgeschwindigkeit zwischen Laim und Ostbahnhof. Dafür nimmt man explodierende Kosten und überdehnte Bauzeit in Kauf. Die oberirdische Südring-Variante hätte längere Fahrtzeiten gehabt, aber sie hätte viel schneller gebaut werden können, noch dazu wesentlich billiger! Und sie hätte den Süden unter anderem mit dem Volkstheater besser angebunden.

"Wenn wir mal fertig werden, dann hat München wirklich was davon", meinte Jörg Mader ablenkend. Die Frage ist doch nicht, ob "München was davon hat", sondern was München davon hat! Ob es tatsächlich profitiert, welchen Nutzen es zu welchem Preis bekommt. Das jetzt offengelegte Preis-Leistungsverhältnis lässt vor allem an Wucher denken: Viel Geld und Zeit für wenig störanfälligen Nutzen. Das ist die rot blinkende Parallele zu "Stuttgart 21"! Anstatt ohne Risiko und preiswert oberirdisch erprobte Strecken wie den "Südring" (mit langfristiger Perspektive eines im Norden geschlossenen Vollrings) auszubauen, sucht man das Bling-Bling einer Zeitersparnis trotz Risiken im Untergrund, koste es, was es wolle, und dauere es ein Vierteljahrhundert.

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Zu viel Geld, zu wenig Nutzen

Die Überschrift "Es droht das nächste Milliarden-Desaster" trifft es genau. Offensichtlich ist der Stadtrat nicht bereit, aus Fehlern zu lernen - oder war Stuttgart 21 in München unbekannt? Hätte man sich vor Jahren für den Nord- und den Südring statt einer zweiten Stammstrecke entschieden, könnten Nord- und Südring heute vermutlich schon in Betrieb sein. Aber nein, alles muss ins Zentrum, Tangentialen brauchen wir nicht - oder irgendwann als Straßenbahn. Man präferierte eine zweite Stammstrecke mit zu wenigen Umsteigemöglichkeiten und zudem sehr tiefen Bahnhöfen. Und das bei den bekannt zuverlässigen MVV-Rolltreppen, wo Monate benötigt werden, die U5-Rolltreppen am Stachus auszuwechseln. In London am Lancaster Gate habe ich die andere Variante kennengelernt: Am Morgen lag die komplette neue Rolltreppe vor der Tube-Station, am Abend war sie eingebaut. Aber das ist ja altbekannt, siehe Rosenheimer Platz und die Erneuerung der Wandverkleidungen in den unterirdischen S-Bahn-Stationen. Hauptsache, der Anbieter ist billig, der Zeitrahmen spielt keine Rolle.

Mir stellt sich auch die Frage, wenn der Stadtrat und der MVV davon spricht, die U3/U6 und die U2 seien an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt, ob von den Verantwortlichen jemals jemand zur Rush-Hour in Paris oder London U-Bahn gefahren ist, ganz zu schweigen von Tokio. Eine dichtere Zugfolge wie heute ist ohne große Probleme möglich. Auf der geplanten Strecke der U9 gibt es im Nordteil eine Tram, die vielleicht besser ausgebaut sein könnte. Auch die mit dem Bau der U9 geplante Zusammenlegung der U-Bahn-Stationen Poccistraße und Implerstraße erscheint mir mehr als hirnrissig, an der (nachträglich eingebauten) Station Poccistraße liegen KVR und alter Südbahnhof. Mit der U9 geht nach dem derzeitigen Stand ein umfangreicher Streckenneubau für die U3 und U6 einher - Verschiebung des bisherigen Verlaufs mit entsprechend neuen U-Bahn-Tunnels Richtung Harras und Thalkirchen. In der Ostvariante wird wenigstens der neue Südbahnhof mit angeschlossen und das KVR bleibt in erreichbarer Nähe. Aber eine solche Umbaumaßnahme dürfte nach meiner Einschätzung eine mehrjährige Unterbrechung der U3 und der U6 zur Folge haben. Ob das zu einer Verkehrswende beiträgt, erscheint mir doch mehr als zweifelhaft.

Die zweite Stammstrecke dürfte mehr als acht Milliarden Euro kosten, auch die U9 dürfte nicht viel billiger werden, und Berlin (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzt) wird in Zukunft weit weniger spendabel sein, schließlich erhält München aus dem Topf mehr als alle anderen Verkehrsverbünde zusammen(!). Was könnte man für dieses Geld alles machen!

Detlev Eifler, München-Neuaubing

Alle Spielräume vernichtet

Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode: Mit aller Gewalt alte Ideen, die vor Jahrzehnten sicherlich einmal Sinn ergaben, koste es was es wolle bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Muss denn wirklich eine stadtplanerisch keineswegs mehr überzeugende Lösung für S- und U-Bahn bis zur finanziellen Pleite gebaut werden? Um dann in 15 Jahren, wahrscheinlich aber noch viel später, festzustellen, dass es die Stadt gar nicht mehr so gibt, wie es sich die alte Planung vor Jahrzehnten gedacht hat.

Die Stadt ist in die Breite gewachsen, und dort liegen alte Schienen aus alten Zeiten! Aber der Südring und vor allem der mögliche Nordring haben keine besondere Funktion. Noch ist es Zeit für den Ausbau dieser sinnvollen ÖPNV-Alternativen.

Sollen wir uns mit mit der zweiten S-Bahn-Stammstrecke und einer U 9 finanziell so binden, dass für Jahrzehnte fast alles Geld dorthin geht - statt es zur Reaktivierung des teils maroden, störanfälligen jetzigen Verkehrsnetzes zu verwenden? Soll München kein Geld mehr haben für eine lebens- und lebenswerte Gestaltung des Stadtraumes für die Menschen dieser Stadt? Oder sollen auch Parks und grüne Vernetzungen oder beispielsweise auch Stadtteile und ihre Kultur vollends auf der Strecke bleiben, weil das Geld wegen eines monströsen Bahnbaus fehlt? Der wird schlichtweg unbezahlbar sein, die Qualität der Stadt wird zudem über Jahrzehnte durch Baustellen und Geldmangel behindert. Soll München nur noch im Untergrund leuchten? Die geplanten Tunnel werden zum traurigen Milliardengrab zur Schadenfreude der ganze Republik. Münchens städtebauliche Qualitäten werden ad absurdum geschrumpft. Noch ist es Zeit für den Mut zu einer Verkehrs-Wende auf der Schiene, statt mit diesem hyperteuren Bauvorhaben in den Abgrund zu rasen!

Frank Becker-Nickels, München

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