Süddeutsche Zeitung

EU-Bestechungsskandal:Verlockungen, Verrat und Vertrauensverlust

Lesezeit: 5 min

Für die einen war es vorhersehbar, dass nicht alle EU-Parlamentarier dem großen Geld widerstehen konnten, andere sind entsetzt. Doch dass die Affäre nun ans Licht kommt, hat aus Sicht einiger Leser auch etwas Gutes.

"Mitten ins Herz" vom 15. Dezember, "Lockruf des Geldes" und "Autokratien nutzen Geld als Waffe" vom 12. Dezember, "Das Virus des Misstrauens" vom 13. Dezember:

Schwache Überzeugung

Diese Meldung ist ein einziger Eklat. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass in gerade heutiger Zeit Repräsentanten und Repräsentantinnen des europäischen Volkes immer noch empfänglich sind für Bestechung und Korruption. Vielleicht bin ich aber auch nur naiv. Mich irritiert es dennoch, dass Eva Kaili die Werte und Prinzipien, nach der die Europäische Union ihre Politik auslegt und gestaltet, offenbar nur vage verinnerlicht hat. Wie kann man dem schnöden Geld so leicht verfallen? War sie so leicht zu korrumpieren? Das klingt für mich nach einer Frau mit schwachen Überzeugungen. Was wollte sie in Brüssel? Bloß Karriere machen?

In solch einer Situation hätte sie den Katarern gegenüber ganz ostentativ mit Integrität begegnen sollen. Im Anschluss wäre der Fall im Europäischen Parlament öffentlich gemacht worden, um der Welt die Unverrückbarkeit im Festhalten unserer europäischen Werte zu demonstrieren. Es hätte ein Moment der Konsolidierung werden können. So bleibt letzten Endes alles nur Konjunktiv. "European Union as the untouchables" (Europäische Union als die Unangreifbaren/Unbestechlichen). Pustekuchen.

Michael Ayten, Trier

Wasser auf die Mühlen Orbáns

Was geht in Köpfen von Menschen vor, die ein Studium an einer Universität absolviert haben, hernach ins Berufsleben eingestiegen sind, sich in Top-Positionen hochgearbeitet haben, dementsprechend hohe Gehälter sowie Spesen und anderes mehr einheimsen, die keinerlei Sorgen plagen und es dennoch nicht lassen können, die EU in erschütternder Höhe zu betrügen? Derlei Vorgänge sind Wasser auf die Mühlen Orbáns und seiner Gleichgesinnten.

Hans Gamliel, Rorschach

Die Stärke der EU

Woher kommt diese Naivität? Ist es Dummheit oder soll die Bevölkerung verunsichert werden? Man weiß doch, wo Macht und Geld ist, da ist Korruption nicht weit. Es ist doch gerade ein Zeichen von hoher Qualität und hohen Anforderungen, wenn solche Fälle aufgedeckt und verfolgt werden. Glaubt denn jemand, dass in Ungarn bei Orbán, in der Türkei bei Erdoğan oder in Russland bei Putin und seinen Oligarchen die Korruption aufgedeckt werden würde? Nein, dort ist sie System.

Loben wir die EU, sie deckt Korruption auf und verfolgt sie. Das ist auch das Ziel beim jüngsten Vorhaben der EU-Staaten: Im Dezember haben sie sich auf eine Obergrenze bei Bargeldzahlungen in Höhe von 10 000 Euro verständigt. Aufdeckung und Verfolgung von Korruption ist doch gerade ein Zeichen für die Stärke der EU. Dafür verdient sie Anerkennung.

Prof. Toni Lüdi, München

Ethikrat ist nötig

Der Skandal um die griechische Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili zeigt einmal mehr, dass Europa etwas tun muss, will es nicht zugrunde gehen, an Selbstzerstörungstendenzen, Versagen bei einer harmonisierten Haushalts-, Finanz- und Sozialpolitik, einer mangelhaften koordinierten Verteidigungspolitik, einer aufgeblähten, teuren Bürokratie und nun auch noch einem möglichen Korruptionsskandal, der das Vertrauen der Europäer in ein zukünftiges funktionierendes vereintes Europa schwer beschädigen dürfte.

Die Einsetzung eines europäischen Ethikrats, der ein Abdriften der so glorifizierten und mit reichlich Vorschusslorbeeren versehenen EU in undurchsichtige, kriminelle Machenschaften unterbindet, scheint dringend geboten.

Wolfgang Gerhards, Berlin

Jeder hat seinen Preis

Wenn Interessensgruppen versuchen, für sie günstige politische Entscheidungen herbeizuführen, nennt man das Lobbyismus, und der funktioniert nicht nur mit schönen Worten. Korruption hingegen ist die direkte Einflussnahme auf Entscheidungsträger durch persönliche Zuwendungen oder Umwegrentabilitäten. Das Grundprinzip der individuellen Käuflichkeit, der Basis solcher Prozesse, wird man vermutlich nicht so schnell los, weil jeder seinen Preis hat und ihn selbst bestimmt.

Martin Behrens, Wien/Österreich

Selbstbedienungsmentalität

Vor einigen Jahren haben Parlamentarier getrickst, um sich Vergünstigungen bei ihren Heimflügen zu erschleichen. Gier und kriminelle Energie sind also im EU-Parlament nicht gerade unterrepräsentiert. Dabei werden die Mitglieder des Hohen Hauses üppig aus Steuergeldern versorgt mit Diäten, Tagegeld, Reisespesen et cetera. Doch das reicht manchem offenbar nicht. Natürlich sind das Einzelfälle und man darf Abgeordnete nicht unter Generalverdacht stellen. Aber viele Bürger glauben, dass es sich beim aktuellen Fall nur um die Spitze des Eisbergs handelt.

Geradezu rührend naiv ist dazu der Vorschlag von der Leyens, einen Ethikrat zu gründen. Der würde Werte und Verhaltensregeln formulieren. Verlogener geht's nicht. Denn gleichzeitig toleriert die EU seit Jahren, dass der korrupte Orbán seine Macht mit EU-Fördergeldern stabilisiert und die Werte der EU mit Füßen tritt. Jetzt beklagt der EU-Abgeordnete Dennis Radtke (CDU), dass Katar nicht nur Fußballfunktionäre korrumpiert und sich eine WM gekauft hat, sondern auch EU-Politiker. Unerhört! Doch zur Korruption gehören immer zwei: einer, der korrumpiert und einer, der sich korrumpieren lässt. Die Affäre Kaili zeigt, dass die EU an Kernfäule leidet.

Große Worte fand EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola für den Bestechungsskandal, der Brüssel erschüttert: "Das Europäische Parlament wird angegriffen, die europäische Demokratie wird angegriffen und unsere Art der offenen, freien und demokratischen Gesellschaften wird angegriffen." Stellt sich die Frage, wen sie damit gemeint hat. Eva Kaili und ihre Komplizen, bei denen mehr als 1,5 Millionen Euro in bar gefunden wurden? Sie werden vor Gericht ein faires Verfahren bekommen mit unbestimmtem Ausgang. Damit ist der Angriff auf Parlament, Demokratie und Gesellschaft aufgearbeitet. Oder meint Metsola die Kataris, die mit ihren Koffern voller Geld EU-Abgeordnete angegriffen und mutmaßlich zu kaufen versucht haben? In Katar weiß man natürlich von nichts, und daran wird sich nichts ändern. Katar lässt die Beschuldigung, die EU angegriffen zu haben, ins Leere laufen.

Warum griff also Roberta Metsola in ihrer Empörung so hoch ins Regal? Es könnte sein, dass sie erkannt hat, dass das EU-Parlament, die europäische Demokratie und unsere offenen, freien und demokratischen Gesellschaften von denen angegriffen werden, die vorgeben, sie zu verteidigen, nämlich den EU-Parlamentariern und den Mitgliedern der EU-Kommission. Diese haben sich nämlich in ihrem Eifer, Werte, Ethik und Moral aufrechtzuhalten, in einer dermaßen obszönen Selbstbedienungsmentalität verfangen, die weitab von jeglicher Lebensrealität eines jeden Europäers ist. Das beginnt bei jährlichen Einkommen in Höhe von etwa 175 000 Euro für einen einfachen Abgeordneten (rechnet man Grundgehalt und Aufwandsentschädigung, Anm. d. Red.), geht über die Möglichkeit doppelter Zuwendungen aus früheren Tätigkeiten, gipfelt in märchenhaften Pensionsregelungen und endet bei der jüngst beschlossenen Angleichung der Diäten an die Inflationsrate. Gar nicht erwähnenswert sind subventionierte Einkaufsmöglichkeiten im EU-Supermarkt in Brüssel sowie Flüge in der Business Class. Das Ganze fügt sich zu einem Bild, das jeden Bürger, wenn er sich den Sparappellen der Politik gegenübersieht, fassungslos und zugleich wütend macht.

Roberta Metsola kann sich den gekünstelten Furor sparen und sollte dafür sorgen, dass die jedweder normalen Lebensrealität entrückte Versorgung ihresgleichen auf ein akzeptables Maß zurückgefahren wird. Sonst könnte es sein, dass die Mehrheit der Europäer nicht nur der EU den Rücken kehrt, sondern sich gegen sie wendet und dafür sorgt, dass der Selbstbedienungsladen Brüssel geschlossen wird.

Josef Geier, Eging am See

Reinigendes Gewitter

Es ist paradox: Den guten Ruf einer Institution kann man nur bewahren, indem man mit Verfehlungen ihrer Mitglieder offen umgeht. Deshalb sind Skandale so etwas wie reinigende Gewitter. Hinterher ist, da wo der Blitz eingeschlagen hat, punktuell etwas kaputt, ringsum ist alles nass, aber die Schwüle, die geherrscht hat, wenn etwas Unausgesprochenes im Raum stand, ist verflogen und man sieht klarer. Das gilt für die Kirche und für Konzerne nicht anders als für das Europaparlament. Keine Institution spricht gerne darüber, dass ihre Mitglieder fehlbare Menschen sind. Dass ihre Strukturen nicht durchgängig transparent, sondern zumindest in Teilen dunkel sind. Denn die Erfordernis positiver Selbstdarstellung, die ihren Repräsentanten in Fleisch und Blut übergegangen ist, scheint gerade das Gegenteil zu diktieren: Niemals Zweifel zulassen, keine Schwäche zeigen. Für einfache Gemüter, und als solche sieht man, ob zu Recht oder zu Unrecht, die "Leute" ja gerne an, bedeutet es natürlich eine geistige Anstrengung, einer Institution, die einem ohnehin nicht geheuer ist, die Fähigkeit zur Selbstreinigung zuzutrauen. Aber es geht leider nicht anders. Wo grenzenloses Vertrauen zu herrschen scheint, sollte man skeptisch werden. Nur wo Misstrauen zugelassen und Kontrolle mit allen sichtbaren Konsequenzen praktiziert wird, ist auch Vertrauen möglich.

Axel Lehmann, München

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung , gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und dem Wohnort. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de . Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5726781
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.