Süddeutsche Zeitung

Annie Ernaux:Zulässige Israel-Kritik

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Ein Leser verteidigt das BDS-Engagement der Literatur-Nobelpreisträgerin und wünscht sich mehr öffentliche Aufmerksamkeit für Palästinenser.

"Es geht zur Sache" vom 10. Oktober:

Als vor wenigen Tagen Annie Ernaux den Literatur-Nobelpreis zugesprochen bekam, ging ein Aufatmen durch die Feuilletons: Endlich! So hieß es allerorten. Nach vielen Wirrungen und Irrungen des Komitees in den vergangenen Jahren bekommt eine grandiose Schriftstellerin die längst verdiente Auszeichnung.

Mit Entsetzen habe ich die Verurteilung des politischen Engagements von Annie Ernaux in der SZ gelesen. Er reiht sich ein in eine lange, nicht endende Kette von Diffamierungen des gewaltfreien Widerstandes durch BDS ( Boycott, Divestment and Sanctions; Anm. d. Red.), die auch in der SZ gebetsmühlenartig wiederholt wird. Wie muss es der Leser verstehen, wenn in einer seriösen Tageszeitung in diesem Zusammenhang immer wieder dieselben Antisemitismus-Anschuldigungen erhoben werden, obwohl diese von den obersten europäischen und deutschen Gerichten längst als gegenstandslos publiziert wurden? So der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem einstimmigen Urteil vom 11. Juni 2020 gegen den französischen Staat ("BDS als legitimes Mittel der freien Meinungsäußerung"), ebenso das Bundesverwaltungsgericht in seinem einstimmigen Urteil gegen die Stadt München vom 20. Januar 2022 und nicht zuletzt das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages über die "BDS-Resolution" des Parlaments vom 18. Dezember 2020 ("... hat daher keine rechtliche Bindungswirkung für andere Staatsorgane. Der Beschluss stellt eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte dar").

Diese wichtigen Informationen werden dem Leser vorenthalten. Darüber hinaus erwähnt der SZ-Autor mit keinem Wort die seit 55 Jahren bestehende Besatzung des Westjordanlandes durch Israel als Ursache für die BDS-Initiative! Scheinbar kann oder will er nicht verstehen, worin der Unterschied besteht zwischen jüdischen Menschen auf der einen Seite und einem israelischen Besatzungsstaat auf der anderen, der massiv Menschenrechte verletzt, Völkerrecht und zahllose UN-Resolutionen missachtet. Diesen Staat zu boykottieren aus Protest gegen das von ihm begangene Besatzungsunrecht hat nichts mit Missachtung oder Hass auf Juden und Jüdinnen zu tun, wohl aber mit der universalen Geltung der Menschenrechte. Ohne Besatzung gäbe es kein BDS. Nicht zuletzt war es der Boykott gegen Südafrika, der die damalige Politik der Apartheid beendete - ohne dass der Staat Südafrika deshalb vernichtet wurde, wie es der SZ-Autor und andere den BDS-Unterstützern im Fall Israel böswillig unterstellen.

Im kommenden Jahr feiert Israel seinen 75. Jahrestag. Vermutlich werden demnächst die ersten Glückwünsche in den deutschen Medien verfasst werden. Meine stille und bescheidene Hoffnung besteht darin, dass auch mal an die mit der Staatsgründung verbundene Vertreibung von etwa 700000 Palästinensern medial und damit öffentlich erinnert wird.

Ekkehart Drost, Göttingen

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