Süddeutsche Zeitung

Tamiflu-Skandal:Forscher beklagen Kontrollversagen

Wissenschaftlich ist Tamiflu wohl nicht mehr haltbar. Doch der Pharmakonzern Roche zeigt sich noch immer von seinem Grippemittel überzeugt. Er beruft sich auf jene Behörden, denen Wissenschaftler Vernachlässigung der Fürsorgepflicht vorwerfen.

Von Werner Bartens

Wissenschaftlich gesehen sind die millionenfach eingelagerten Grippemittel erledigt. Wer die 550 Seiten des Cochrane-Reviews zu Neuraminidasehemmern nicht durcharbeiten mag, kann auch kompakt nachlesen, warum Oseltamivir (Tamiflu) und Zanamivir (Relenza) ungeeignet zur Vorbeugung und Behandlung der Grippe sind und dass die Medikamente weder Komplikationen noch Krankenhauseinweisungen verhindern (British Medical Journal, Bd. 348, S. g2545 und g2547, 2014).

Dass Tamiflu-Hersteller Roche an die Wirksamkeit des Mittels glaubt, verwundert nicht. Schließlich hat es dem Pharmariesen seit 1999 etwa 13 Milliarden Euro eingebracht. Die Begründung ist jedoch originell: "Die Entscheidungen von weltweit 100 Zulassungsbehörden sowie in der Anwendungspraxis gewonnene Daten (Real-World-Evidenz) belegen, dass Tamiflu ein wirksames Arzneimittel zur Behandlung und Prävention der Influenza-Infektion ist", so der Konzern. Schließlich werde Tamiflu "weltweit von Gesundheitsbehörden als Behandlungsoption empfohlen", darunter WHO und Seuchenschutzbehörde CDC.

Während Forscher und Politiker diskutieren, ob Roche zu Entschädigungszahlungen herangezogen werden kann, beruft sich der Arzneihersteller auf die Untätigkeit von Gesundheitsbehörden und Ministerien weltweit. Es gilt das Motto: Wenn es so viele Länder bestellen und Gesundheitsbehörden empfehlen, muss Tamiflu doch wirken.

Als "Multiorganversagen" bezeichnen die Cochrane-Forscher Tom Jefferson und Peter Doshi das fehlende Engagement von WHO, CDC und europäischen Arzneimittelbehörden, die sich nicht um die Beweiskraft der Studien gekümmert haben und auch nicht auf die Idee kamen, selbst die jahrelang von Roche zurückgehaltenen Patientendaten einzufordern.

Viele Forscher werden deutlich: Nick Freemantle von der Uni London sagt: "Öffentliche Institutionen haben versagt und ihre Fürsorgepflicht gegenüber Patienten vernachlässigt." Fiona Godlee, Chefin des British Medical Journal, fragt: "Warum ist das System der Arzneimittelzulassung und Kontrolle nicht in der Lage, uns mit zuverlässigen, unabhängigen Informationen zu versorgen? Es scheint vielmehr auf das Gegenteil ausgerichtet zu sein." Auf die Antworten von WHO, Robert-Koch-Institut und Gesundheitsministerien darf man gespannt sein.

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Quelle:
SZ vom 12.04.2014
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