Süddeutsche Zeitung

Corona:Das Risiko Schule

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Offen lassen, zusperren? Es gibt gute Gründe für beide Entscheidungen. Aber man darf sich für keine Position die Wissenschaft zurechtbiegen.

Kommentar von Kathrin Zinkant

Es gibt kein Thema, das in der Corona-Krise zu einer derart exponentiell wachsenden Verwirrung geführt hat wie die Frage nach Schulschließungen und Schulöffnungen. Und es hört einfach nicht auf. Da soll eine Antikörperuntersuchung aus Bayern belegen, dass das Ausbruchsgeschehen unter Kindern um ein Sechsfaches unterschätzt wird, also ist doch klar: Die Schulen müssen geschlossen werden. Kurz darauf wollen Kinderklinikärzte anhand von Krankenhausdaten zeigen, dass Kinder viel seltener infiziert sind als angenommen und deshalb keine Gefahr darstellen. Also sollen die Schulen offen bleiben. Bis zur nächsten Studie. So geht das seit Wochen.

Mittlerweile dürfte jede Seite den öffentlichen Diskurs mit angeblichen Belegen und voreiligen Schlussfolgerungen hinreichend vernebelt haben. Das ist nicht nur schädlich für Lehrerinnen und Lehrer, die sich der Pandemie ausgeliefert fühlen. Oder für Eltern, die sich Sorgen machen und mit ihren Kräften ohnehin am Ende sind. Es ist auch extrem schädlich für die Wissenschaft, die beim Thema Schule nach Belieben zurechtgebogen wird. So funktioniert Wissenschaft aber nun mal nicht. Und am Ende bleiben ratlose Menschen zurück, die das Gefühl haben, die Sache laufe gehörig schief - und die Wissenschaft lasse sie im Stich.

Man kann in der Tat kritisieren, dass gute systematische Untersuchungen oder auch nur Zahlen zur Infektionsdynamik an deutschen Schulen fehlen. Das Wesentliche ist dennoch längst bekannt. Es gibt Ausbrüche an Schulen, und selbst wenn das Bild der Schule vom Treiber der Pandemie nie gestimmt hat: Kein Experte im In- und Ausland würde behaupten, dass die Jüngsten der Gesellschaft aus jeder Risikoberechnung herauszunehmen wären, auch kleine Kinder nicht. Sie übertragen das Virus. Das ist Konsens. Und das bedeutet auch, dass ein Risiko darin liegt, die Schulen offen zu halten. Dieses Risiko lässt sich nicht exakt beziffern, aber es ist da. Und es muss durch Einzelstudien weder eskaliert werden, noch darf man es anhand selektiver Daten wegdiskutieren.

Jede Ansteckung, auch an Schulen, erhöht das Risiko, dass Menschen sterben

Das gilt gerade dann, wenn es in der zweiten Welle nicht mehr nur um die Frage geht, ob Urlaub möglich ist oder nicht. Es geht um Menschenleben. Die Zahl der Corona-Toten pro Tag hat sich seit Anfang Oktober verzwanzigfacht. Und indirekt trägt jede Verbreitung des Virus dazu bei, also auch die Infektionsdynamik in Schulen, dass die Kurven nur langsam oder gar nicht abflachen, dass also Menschen sterben. Das sind die Tatsachen.

Es geht deshalb eben nicht um die Frage, ob Kinder nun ansteckend sind oder nicht. Es geht um die Frage, ob man das Risiko zu tragen bereit ist. Es gibt gute Gründe dafür, ganz ohne pseudowissenschaftliches Fundament, die Schulen offen zu halten. Die hohe Belastung der Eltern, ungleiche Bildungschancen der Kinder, der Bedarf an sozialem Umgang mit Gleichaltrigen, nicht zuletzt das Augenmerk auf Zwischenfälle oder gar Gewalt zu Hause - all das spricht für den Präsenzunterricht. Homeschooling kann zwar eine Alternative sein, aber um ein funktionierendes Konzept dafür hätte man sich aufrichtig bemühen müssen. Das ist leider nicht passiert.

Dennoch ist mit den empfohlenen Schutzmaßnahmen an den Schulen noch viel möglich. Was fehlt, ist das Bekenntnis zum Risiko. Oder das Eingeständnis, dass man es nicht eingehen will.

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