Süddeutsche Zeitung

Zeitzeuge George Sakheim:Dolmetscher für einen Massenmörder

Lesezeit: 3 min

70 Jahre nach Beginn der Nürnberger Prozesse kehrt George Sakheim in den Saal 600 zurück - und erinnert sich, wie er auf Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß traf.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

George Sakheim war 22, als er mit einem Massenmörder in einem Zimmer saß. Vor genau 70 Jahren war das, Sakheim hatte sich eigentlich schon darauf eingestellt, dass sein Einsatz in Europa zu Ende sein würde. Bis er in einer Zeitungsanzeige sah, dass sie Dolmetscher brauchen im Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher. Sakheim war 1923 in Hamburg zur Welt gekommen, als Sohn eines Journalisten und Theaterdramaturgen. 1935, sein Vater war vier Jahre zuvor gestorben, floh er mit seiner Mutter nach Palästina. Drei Jahre später wanderte er nach Amerika aus und wurde 1943 US-Soldat im Kampf gegen sein früheres Heimatland. Deutsch ist seine Muttersprache, also meldete sich Sakheim auf die Annonce hin und machte sich auf den Weg nach Nürnberg.

70 Jahre später blickt er sich im Saal 600 um, und nein, es ist nicht alles so, wie es damals war. Oben, wo vor fünf Jahren das Memorium Nürnberger Prozesse eingerichtet wurde, war 1945 eine Tribüne für die Presse. Die Richter saßen dort, wo heute in Schwurgerichtsprozessen der Staatsanwalt, die Nebenkläger und Gerichtsgutachter Platz nehmen.

Der jeweilige Angeklagte des NS-Regimes gab an der Seite des Saals Auskunft, an der heute die Richter des Landgerichts sitzen. Und die heutige Ausstattung des Raumes mit Bänken, Tischen, Kronleuchtern ist ebenfalls nicht historisch. Im Nachkriegsdeutschland endete das Mobilar des Kriegsverbrecherprozesses auf dem Müll, und das wohl auch deshalb, weil es nicht wenige gab, die in den ersten Jahren danach den ganzen Prozess auf den Müll der Geschichte wünschten. Genau drei Gegenstände blieben vom großen Aufräumen verschont, vermutlich auch das eher aus Zufall: zwei Holzbänke und der Elektroschaltschrank.

Sakheim aber war ohnehin eher sporadisch im Saal 600 zugange, ihn hatte man ausgewählt, um Einzelgespräche zu übersetzen. Für eines dieser Gespräche wurde er in einen Raum zu einem Massenmörder gerufen, zu einem Mann, der im Prozess kurioserweise als Entlastungszeuge aussagen sollte: Rudolf Höß, der Lager-Kommandant von Auschwitz. In einem Raum also mit einem der wohl skrupellosesten Schlächter der Weltgeschichte, "es war kaum auszuhalten", sagt Sakheim. "Ich war da ja erst 22", ein wütender junger Mann. "Aber was hätte ich tun sollen? Ich hatte einen Job auszuführen."

Ein Stockwerk höher kann man sich im Memorium anhören, wie das klang, wenn Höß den Mund aufmachte. Man hört einen Mann mit extrem heller Stimme, der Sätze sagt, die sich so anhören, als würde ein Beamter eine Verordnung vom Blatt ablesen. Höß gehörte in dem Prozess nicht zu den Angeklagten, er sollte aus Sicht der Verteidigung darlegen, dass er - wie der Angeklagte und frühere Chef der Sicherheitspolizei, Ernst Kaltenbrunner - lediglich Befehle ausgeführt habe.

Ob es stimme, dass er, Höß, 1941 zu Himmler bestellt worden sei, wird er gefragt. Er könne das nur "dem Sinne nach sagen", nicht wörtlich zitieren, antwortet Höß. Aber ja, Himmler habe ihm mitgeteilt: "Der Führer hat die Endlösung der Judenfrage befohlen. Wir, die SS, haben diesen Befehl durchzuführen." Werde dies zu diesem Zeitpunkt nicht getan, hört man Höß fisteln, "so wird später das jüdische Volk das deutsche Volk vernichten". Ob er, Rudolf Höß, als Familienvater je Mitleid empfunden habe mit den Schicksalen von Frauen und Kindern, wird er gefragt. "Jawohl", antwortet Höß, "aber bei allen diesen Zweifeln war immer ausschlaggebend: der Befehl, der unbedingte Befehl. Und die dazugehörige Begründung."

Das, sagt Sakheim, habe ihn am meisten erschüttert als jungen Mann: "Dass diese Menschen keinerlei Einsicht in ihre Schuld zeigten, unfassbar." Und ja, er sei damals unglaublich wütend gewesen, als der Prozess am 20. November 1945 begann. Aber auch voller Hoffnung, dass diesen Männern Gerechtigkeit widerfahren, dass auf Schuld Sühne folgen werde. Der Prozess endete mit drei Freisprüchen, sieben langjährigen oder lebenslangen Haftstrafen und zwölf Todesurteilen. Zum Tod durch den Strang, death by hanging, wurde auch Kaltenbrunner verurteilt, der Mann, den Höß mit seinen Aussagen reinwaschen wollte. Ein faires Urteil? Sakheim überlegt. Und sagt: "Ich habe es so empfunden."

Wie kann der Mensch so werden?

Ihn zog es nach dem Prozess zurück in seine neue Heimat, in den USA studierte er Psychologie. Die Monate in Nürnberg aber hätten sein ganzes Leben geprägt, sagt Sakheim. Immer wieder habe er sich mit der Frage beschäftigt, wie der Mensch so werden kann. Wie wird einer zum Kaltenbrunner? Wie zum Höß? Das waren wohl, das sage er nun als Psychologe, psychopathische Persönlichkeiten. Was aber noch nicht die Frage beantworte, wie man so wird. Im Grunde, sagt Sakheim und schaut zu Boden, beschäftige ihn die Frage bis heute. Eine Gewissheit indes habe er mitgenommen aus Nürnberg: "Solche Menschen muss man stoppen. Mit allen Mitteln."

Es ist nicht das erste Mal, dass Sakheim zurückgekehrt nach Deutschland. Gemeinsam mit seiner Frau, die 1939 einem Kindertransport entkam, hat er sich das Land immer wieder angeschaut: "Wir mögen die Deutschen." Er sei sehr beeindruckt davon, wie sich dieses Land in den vergangenen 70 Jahren gewandelt habe.

Womöglich hat er den Saal 600 beim jetzigen Besuch zum letzten Mal als Gerichtssaal erlebt. In fünf Jahren, zum 75. Jahrestag, dürfte der Saal bereits komplett als Museum dienen. Seine Erinnerungen an das Nürnberg des Jahres 1945? Vor allem zweierlei, sagt Sakheim. "Es hat sehr gestunken", wohl der vielen unter Schutt vergrabenen Leichen wegen. Die Oper aber habe beeindruckend früh wieder funktioniert.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2015
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