Süddeutsche Zeitung

Schweinsdorf:Wie ein Dorf in Mittelfranken erfolgreich der Landflucht trotzt

Lesezeit: 4 Min.

Leere Häuser, verfallende Bauernhöfe, Grundstücksbrachen: Schweinsdorf war einst ein sterbender Ort - bis die Einwohner mit drei Expertinnen ein Zukunftskonzept entwickelten.

Von Ulrike Schuster, Schweinsdorf

Der Schnee fällt, der Wind schneidet ins Gesicht, die Schuhe stecken im Matsch. Es ist der Samstag vor Heiligabend, der hat Tradition im Dorf, es gibt Glühwein am Lagerfeuer. Die Schweinsdorfer stehen Schulter an Schulter auf ihrem selbst gepflasterten Platz vor ihrem selbstgegossenen Brunnen. Hört man sich um, hört man die Leute "unser Schweinsdorf", "das geht mich an", "wir halten zusammen" sagen. Warum?

Auf den ersten Blick ist Schweinsdorf ein Dorf wie viele andere in Bayern: weitläufige Wiesen, ein Stück Wald, ein Bach. Es gibt: eine Kirche. In Schweinsdorf lebten früher hauptsächlich Bauern. Sie wohnten in 52 der 80 Haus-Nummern auf enormen Hofstellen mit Wohnhaus, Scheune, Schuppen, Stall. Also lernte das Dorf den Strukturwandel kennen. Mit Landwirtschaft und Viehzucht ließ sich kaum mehr was verdienen, die meisten Bauern gaben auf, die Alten starben, die Jungen suchten ihr Glück in der Stadt. Zurück ließen sie leere Gebäude, tote Flächen, und mehr Stille, als dem Dorfleben gut tut. Schweinsdorf dürfte es eigentlich nicht mehr geben.

Bloß, das Dorf wächst. 2005 lebten hier 350 Menschen, heute sind es 425. Städter aus der Umgebung zogen zu, Ex-Dorfkinder kehrten zurück, und die heutige Jugend sagt: "Wir wollen nicht weg." Das Dorf ist ein besonderes. Seine Einwohner sind Vorreiter. Sie wollten ihr Dorf nicht Sterben sehen, bis es tot ist. Sie sind die Dorf-Erneuerer.

Rudolf Glas ahnte: "Da geht was." Er ist in der Gemeinde geboren, Bürgermeister seit 2002 und kennt das Dorf und seine Leute wie kaum ein Zweiter. Glas wusste, man kennt sich, aus der Nachbarschaft, von der Straße, den drei Vereinen: Dorfjugend ab Geburt, Feuerwehr ab 30, Chor ab 60. Wer Zeit, Bier und Essen teilt, der weiß, wie Team geht. Glas ahnte auch: "Im Dorf steckt Potenzial." Schweinsdorf liegt in Mittelfranken, ist Teil der Gemeinde Neusitz. Bis ins Touristen-Mekka Rothenburg ob der Tauber sind es nur drei Kilometer, bis Ansbach 33, 60 bis Würzburg und 80 bis Nürnberg.

2005 hatten die Schweinsdorfer einen Traum. Sie sahen die leeren Häuser bewohnt, die zerfallenen wieder aufgebaut, die Brachflächen mit neuen Häusern bebaut. Aus Schweinsdorf im Verfall wurde Schweinsdorf im Aufwind. 2006 gingen die Schweinsdorfer zwei Tage ins Kloster. Sie brainstormten, "wie sich aus Altem schönes Neues machen lässt". Wenn Glas "vom Dorfkern, wo das Herz schlägt", spricht, leuchten seine Augen.

Die meisten der ungefähr 2200 Gemeinden in Bayern haben Grundstücke in der Ortsmitte, die sie als Bauland nutzen könnten. Viel einfacher und schneller geht es aber, neuen Baugrund am Ortsrand auszuweisen. Denken zumindest viele Lokalpolitiker und Grundbesitzer. Tag für Tag werden deshalb in Bayern 9,8 Hektar vormals freies Land in neue Baugebiete verwandelt. Das entspricht der Fläche von 15 Fußballplätzen. Aufs Jahr gesehen gehen so 3600 Hektar Landschaft verloren. Für Naturschützer zählt der Flächenverbrauch zu Bayerns größten Umweltproblemen. Das Ergebnis nennen Städteplaner Donut-Dörfer: In der Mitte zerfällt der Ortskern, außen wuchert ein Ring aus neuen Wohn- und Gewerbegebieten in die Landschaft.

Die Schweinsdorfer wollten das nicht. Sie wollten ein vitales Dorf, mit der Natur und mit den Menschen. Das braucht professionelle Hilfe. Eine Architektin, eine Vermessungsingenieurin und eine Landschaftsarchitektin spürten Gebäude, Grundstücke und Flächen "mit enormem Potenzial" auf. Sie sprachen mit den Eigentümern allein, auf der Bürgerversammlung mit allen. Auf 140 Seiten Innenentwicklungspapier - einem Fahrplan für Jahrzehnte - machten die Fachfrauen Vorschläge für "Schweinsdorf Vital". Sie sagten konkret, wie das Potenzial für neue Wohnplätze zu nutzen geht: fünf Häuser umbauen, 17 Grundstücke neu einteilen - große in kleine zerlegen-, 31 Baulücken schließen: neu-, an- und ausbauen. Eingesparte Neubaugebiets-Fläche: 4,1 Hektar oder sechs Fußballfelder.

Einen "Augenöffner", nennt Glas das Konzept. Doch Augenöffnen kostet. Mehr als 700 000 Euro haben die Schweinsdorfer seit 2007 in ihr Dorf privat investiert, die Gemeinde 250 000 Euro. Das zu können, ist das eine. Entscheidender ist, es zu wollen. Der Spirit stimmt, wenn man bleiben will und auch den Nachbarn Geld ausgeben und teilen sieht.

Alexander Schöner, 33, bekam so die Hälfte seines Grundstücks. Der Maurer baute für sich und die Freundin ein neues, großes Haus. Der Rothenburger kennt Schweinsdorf, seit er 13 ist. Mit den Dorf-Buben ging er in die Klasse, wurde Gründungsmitglied der Dorfjugend, stellte den Maibaum auf, machte "Freunde fürs Leben". Die Wort halten. Ein Vereinskumpel sagte ihm vor Jahren: "Schweinsdorf freut sich über neue Menschen", und: "Meine Eltern haben einen Bauplatz." 2015 schrieb Schöner dem Freund eine SMS. "Die Eltern wollen teilen", antwortete der tags drauf.

Vom 1800-Quadratmeter Familien-Grund bekam Schöner 900 Quadratmeter für 30 000 Euro ab. Die zwei Grundstücke trennt heute nur ein Himbeerbeet. Für andere Projekte braucht es Menschen, die sich verlieben, "Verrückte". Joachim Beierlein aus Rothenburg ist so einer. Der Zimmermann kaufte für 20 000 Euro ein Fundament und ein paar Balken, die vor Jahrzehnten mal ein Fachwerkhaus waren. Der Wiederaufbau verlangte fünf Jahre Arbeit und 80 000 Euro.

Wer sich mit dem 45-Jährigen durch die Vorher-Nachher-Fotos klickt, glaubt ihm, dass "das stolz macht", draußen wieder blau-rote Wände und drinnen den Kachelofen leuchten zu sehen, bedeckt von 300 Jahre alten Ziegeln. Heute ist Beierlein für die Nachbarn "der Butsch", der Abenteurer, der jedes Jahr für Monate zum Surfen nach Frankreich verschwindet, aber verlässlich im Sprinter zurückkehrt.

Um Beierleins 20 000-Euro-Zuschuss für die Denkmalschutz-Auflagen kümmerte sich Bürgermeister Glas beim Amt für ländliche Entwicklung Mittelfranken. Seit 2009 ist Schweinsdorf dort Pilotpartner der Dorferneuerung. Da ist kein Seminar, das Glas nicht belegt hat und kein Wettbewerb, bei dem er Schweinsdorf nicht eingereicht hat. Dieses Jahr gewannen sie den Sonderpreis im Bundeswettbewerb "Kerniges Dorf". 2017 ist Schweinsdorf abermals gewachsen. Vier Bürger starben, acht Kinder wurden geboren.

Angelika Hellenschmidt hat Drillinge zur Welt gebracht. Die 32-Jährige ist mit Mann Martin, 35, in ein frisch renoviertes Zwei-Stock-Haus gezogen. Zwischen Auszug und Zurücklehnen lagen zwei Wochen. Im Flur hängt das Hochzeitsbild mit "ein Leben in Liebe und Harmonie" überschrieben. Die Arzthelferin und der Elektromeister wollten "ins bezahlbare Haus, das uns gehört", wo Erik, Paul und Toni ohne Aufsicht spielen können. Für 200 Quadratmeter Wohnen und 900 Quadratmeter Garten bezahlten sie 220 000 Euro. Dorf-Retten heißt Unterwegs-Sein. Von den 53 Projekten haben die Schweinsdorfer bis heute 18 umgesetzt, in vormals leere Häuser ist Leben eingezogen. Demnächst sollen neun Sozialwohnungen gebaut werden. Am Lagerfeuer sagt die Dorfjugend: "Auch Mieten hat Zukunft."

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Quelle:
SZ vom 27.12.2017
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