Süddeutsche Zeitung

Fotografie in Bayern:Wertvoller als ein Brillant

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Schon bald nach der Erfindung der Fotografie verbreitete sich diese Kunst auch auf dem Land. Eine Ausstellung in Vilsbiburg belegt, wie meisterlich die Fotografen schon vor hundert Jahren agierten.

Von Hans Kratzer, Vilsbiburg

Was für ein großartiges Bild, es zieht den Betrachter sofort in den Bann. Vier junge Hufschmiede sind darauf zu sehen, die vor ihrer Werkstatt stehen und selbstbewusst in die Kamera blicken. Freilich, ein Schnappschuss ist das nicht, vielmehr handelt es sich um ein vorbildlich inszeniertes Porträt. Die Werkzeuge der Männer - Hämmer, Amboss und die Zange mit dem Hufeisen - sind grafisch wirkungsvoll angeordnet.

"Hier ist natürlich keine echte Arbeitssituation dargestellt", sagt Roger Jopp, der mit der Geschichte der Fotografie bestens vertraut ist. "Die vier Burschen wollen als stolze Vertreter ihres Berufsstands gesehen werden", sagt Jopp, und zwar ganz im Sinne des Meisterfotografen August Sander (1876-1964), der vor hundert Jahren als Wegbereiter der dokumentarischen Porträtfotografie berühmt wurde. In seinem epochalen Band "Menschen des 20. Jahrhunderts" zeichnete Sander einen Querschnitt der Gesellschaft der Weimarer Republik, vom Handwerker bis zum Künstler.

Die Fotografie mit den vier Hufschmieden hat der Amateurfotograf Anton Reichl wohl mithilfe eines Selbstauslösers angefertigt, denn er ist selber darauf zu sehen. Die Stilistik der Aufnahme lässt aber erahnen, dass Sanders Einfluss schon damals bis ins ländliche Niederbayern reichte. "Hier kannte man August Sander", ist sich Jopp sehr sicher. Auch auf dem Land waren die Fotografen am Puls der Zeit, sie wussten genau, was technisch und ästhetisch zu tun war. Wie populär die Kunst der Fotografie schon in ihren Anfängen war, belegt eine mit hohem technischen Aufwand angefertigte Aufnahme auf dem Stadtplatz von Vilsbiburg aus dem Jahr 1858. Darauf ist ein Mädchen mit einem Korb zu erkennen. Das war gerade mal 20 Jahre nach der Geburtsstunde der Fotografie in Paris.

Jopp ist aktives Mitglied beim Heimatverein Vilsbiburg, der in seinem Museum gerade eine bemerkenswerte Ausstellung über die Geschichte der Fotografie in Vilsbiburg und Umgebung zeigt. Mag das Thema auch räumlich eng gefasst sein, so weist es in seiner Dimension weit über die Grenzen Niederbayerns hinaus. Denn es zeigt, in welcher Blüte diese Kunst schon vor mehr als hundert Jahren stand, auch außerhalb der Großstädte. Selbst in abgelegenen Regionen gab es bereits professionelle Fotografen, die oft aus dem Handwerk und dem Bauernstand herausgewachsen sind und ihr Metier meisterhaft beherrschten. Heute lassen uns deren Bilder tief in die damalige Gesellschaft hineinblicken, in ihre Zwänge, ihre Nöte und Freuden sowie in uns ganz fremd gewordene Lebensumstände.

Einem dieser Berufsfotografen, er hieß Sebastian Alt, ist in der Ausstellung eine eigene Vitrine gewidmet. Alt wurde 1867 in ein kleines Anwesen hineingeboren, erlernte später das Schreinerhandwerk und war ein schillerndes Multitalent, wie man es selten findet. Seine älteste noch vorhandene Fotografie aus dem Jahr 1908 zeigt Dorfbewohner bei der Kirchweih. Neben seiner Schreinerei betrieb Alt eine Bienenzucht mit 120 Völkern. Außerdem baute er sich ein Kleinkraftwerk an der Vils, mit dem er Strom für den Eigenbedarf erzeugte.

In einem an sein Anwesen angebautes Atelier fotografierte er seine Kundschaft. Er erledigte auch mobile Aufträge draußen auf den Einödhöfen, die er mit dem Fahrrad erreichte, auf das er seine schwere Ausrüstung geschnallt hat. Er drängte sich keineswegs auf, "die Bauern wollten fotografiert werden", sagt Jopp. Die Möglichkeit, den Augenblick festhalten zu können, stieß recht früh auf gesellschaftliche Akzeptanz. Geschäftstüchtige Fotografen begannen alsbald mit ihren riesigen Kameras über die Dörfer zu ziehen.

Alt führte über seine Aufträge penibel Buch. Die noch vorhandenen Einträge beginnen aber erst mit der Nummer 4058. Ende 1938 bezifferte Alt sein fotografisches Werk auf 13 530 Aufnahmen. Was Alt auszeichnete, war der Schalk. "Er war richtig witzig", sagt Jopp, was sich in seinen bisweilen valentinesk inszenierten Fotos widerspiegelt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen stets todernst in die Kamera blickten.

80 000 Negative und Glasplatten lagern im Archiv des Vilsbiburger Heimatvereins. Viele davon sind nicht mehr auf Anhieb bestimmbar. Eine grandiose Idee wurde deshalb vor gut 40 Jahren in der Redaktion der Vilsbiburger Zeitung geboren. Seit jener Zeit veröffentlicht das Blatt wöchentlich ein altes Foto mit der Bitte um Hinweise, wer und was dort abgebildet sei. "Die Aufklärungsquote beträgt über 90 Prozent", sagt der frühere Museumsleiter Lambert Grasmann. Zum Beispiel hatte Sebastian Alt im Ersten Weltkrieg die Wachmannschaft eines Gefangenenlagers in der Nähe von Vilsbiburg dokumentiert. Tatsächlich wurden nach dem Abdruck in der Zeitung einige Männer erkannt. Die ältesten Bestände wurden auf diese Weise fast komplett identifiziert.

In der Ausstellung wird nicht nur deutlich, dass die Fotos aus ihrer Zeit heraus interpretiert werden müssen, sondern auch, wie aufwendig es war, eine Glasplatte zu belichten. Fotografien gewähren Einblicke in verschwundene Welten, seitdem auf ihrer Oberfläche ein kurzes Stück Zeit eingefroren werden kann. Den Maßstab für den Wert solcher Schätze hat der Philosoph Karl Valentin (1882-1948) definiert. Ein altes Bild von München, sagte er, "is mehra wert ois a Brillant".

Bitte recht freundlich! Zur Geschichte der Fotografie in Vilsbiburg und Umgebung. Heimatmuseum Vilsbiburg, bis 31. Mai 2023, Sonntag 10-12 Uhr, Mittwoch 14-16 Uhr. An jedem ersten Wochenende im Monat zusätzlich: Samstag 14-16 Uhr und Sonntag 14-16 Uhr. Telefon 08741-3821 (nur während der Öffnungszeiten).

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