Süddeutsche Zeitung

Studie:Wenn Eltern mit dem Anwalt drohen

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Jeder vierte Lehrer hat schon Gewalt in der Schule erlebt. Dabei werden oft die Erziehungsberechtigten ausfällig

Von Toni Wölfl, München

Man muss sich das mal vorstellen: Ein Vater steigt auf eine Leiter, um heimlich durch das Fenster eines Klassenzimmers zu filmen. Er droht, die Aufnahmen vom Unterricht zu veröffentlichen und den Grundschullehrer in schlechtem Licht dastehen zu lassen. Sein Ziel: gute Noten erpressen, damit die Tochter aufs Gymnasium wechseln darf. So geschehen in einer Schule im Freistaat, sagt Juristin Christina Bädeker vom Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV). Der Fall zeigt, dass Gewalt gegen Lehrkräfte oft von Eltern ausgeht. Das ist nun zum ersten Mal wissenschaftlich untersucht worden.

Erpressung, Beleidigung, Cybermobbing und sogar Faustschläge: Jeder vierte Lehrer habe genau das an bayerischen Schulen erlebt, belegt eine Forsa-Umfrage unter 2000 Lehrkräften in ganz Deutschland, davon 500 aus Bayern. "Und doch sagen über die Hälfte der Lehrer, das Thema werde totgeschwiegen", sagte die Präsidentin des BLLV, Simone Fleischmann, am Montag in München. "Wir fordern: Gewalt gegen Lehrer darf kein Tabuthema sein."

Die Studie zeigt eine klare Tendenz: Harte Fälle von körperlicher Gewalt kämen an bayerischen Schulen zwar selten vor, psychische und verbale Aggression dagegen häufig. Mehr als die Hälfte aller Pädagogen kennt Fälle von psychischer Gewalt an ihrer Schule, hochgerechnet sind das 52 500 Fälle. In 18 Prozent davon wurden die Lehrer selbst beschimpft und beleidigt. Körperliche Angriffe haben vier Prozent erlebt, also 20 der bayerischen Befragten. Hochgerechnet sind das der Untersuchung zufolge 3800 Fälle im Freistaat. Die Studie nennt zum Beispiel "schlagen, schütteln, stoßen, treten, boxen, mit Gegenständen werfen, an den Haaren ziehen, mit den Fäusten oder Gegenständen prügeln". Körperliche Gewalt komme besonders häufig an Mittelschulen vor, gefolgt von Realschulen und Gymnasien, erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter Wolfram Schneider.

"Jeder einzelne Fall ist einer zu viel", sagt Präsidentin Fleischmann. "Konflikte eskalieren schneller und öfter. Autoritäten werden nicht mehr anerkannt. Das macht auch vor der Schultüre nicht Halt." Und offenbar auch nicht vor dem Elternhaus: 59 Prozent der psychischen Angriffe gegen Lehrer gingen der Studie zufolge von den Erziehungsberechtigten aus. Die kämen gleich mit dem Anwalt zur Sprechstunde, oder schickten schon mal ein Schreiben vom Juristen vor, sagt die BLLV-Juristin Bädeker. Dieses Schreiben koste 45 Euro, man solle bis nächste Woche überweisen, sonst drohe ein Schufa-Eintrag. "Lehrer kriegen da erst mal Angst." Oft fehle die Erfahrung, wie man mit solchen Drohungen umgehen soll. In einem konkreten Fall sei vorgeschlagen worden, anstelle des langen juristischen Prozederes doch einfach einen Aufsatz des Sprösslings mit einer Zwei statt einer Vier zu benoten.

"Eltern, die Lehrer angreifen, sind schlechte Vorbilder", sagt die BLLV-Präsidentin. Doch brauchen Kinder dabei offenbar keine Nachhilfe von Zuhause: "Schüler nehmen Lehrer heimlich im Unterricht auf, das wird dann ins Netz gestellt." 34 Prozent der Pädagogen haben strafbares Cyber-Mobbing bereits beobachtet. 2900 der Lehrer waren laut Hochrechnung selbst Opfer. In einem Fall haben Schüler der Oberstufe einem Lehrer in einem Online-Blog vorgeworfen, Sex mit Schülern gehabt zu haben. So wollten sie ihn in Verruf bringen, sagt Juristin Bädeker.

Der Fall ist noch in anderer Hinsicht exemplarisch: "Der Lehrer hat die Schüler selbst angezeigt." Die Schulleitung dagegen wollte das nicht tun. Viele Lehrer vermissen den Beistand von Vorgesetzten. Mehr als die Hälfte der Lehrer fühlt sich nach einem psychischen Angriff nicht ausreichend vom Rektor unterstützt, heißt es in der Studie. 59 Prozent sagen, das Ministerium nehme sich des Themas nicht genügend an. In knapp einem Viertel aller Fälle werde überhaupt nichts unternommen. "Viele nehmen die Probleme mit nach Hause zum Partner", sagt die BLLV-Präsidentin. "Viele Kolleginnen und Kollegen fühlen sich allein gelassen. Die schlimmste Relativierung, die ich kenne, ist die Aussage: ,Das gehört halt zu deinem Beruf.' Unsere Aufgabe ist zu bilden und zu erziehen", betont sie. "Klar, nicht jede Aufgabe löst bei den Schülern Begeisterung aus. Neu aber ist die stärker werdende Aggressivität." Als Ursache dafür nennt sie die Verrohung der Sprache, die sich auch auf das Verhalten der Kinder auswirke. "Es gilt, dagegen Haltung zu zeigen."

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SZ vom 15.11.2016
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