Süddeutsche Zeitung

Bayerische Fotopioniere:Sensationsfund auf dem Dachboden

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Das Haus der Bayerischen Geschichte zeigt einzigartige Bilder, die eine Bäuerin und zwei junge Burschen vor einem guten Jahrhundert im Allgäu aufgenommen haben. Sie dokumentieren eine dörfliche Welt, die sich im totalen Umbruch befand.

Von Hans Kratzer, Regensburg

Um das Jahr 1910 herum hatte sich ein im Dorf Missen im Allgäu lebender Postbote und Kleinbauer ein stattliches Grammophon zugelegt. Für die Einheimischen muss das eine veritable Sensation gewesen sein. Stolz präsentierte der Besitzer seinen Schatz mitsamt Schallplatte vor seinem Haus. Wir wissen das, weil seine Nachbarin, die Bäuerin Auguste Städele, diesen Moment mit ihrer Kamera festhielt. Die eindrucksvolle Fotografie wirft freilich viele Fragen auf, die sich nicht mehr beantworten lassen. Eines aber macht sie deutlich: Zusammen mit dem Fahrrad, das wenige Jahre vorher als Neuerung ins Dorf gekommen war, steht das Grammophon für den Beginn eines neuen Zeitalters im beschaulichen Kirchdorf Missen.

Von diesen umstürzenden Ereignissen auf dem Land wüssten wir nichts, hätte sie Auguste Städele nicht dokumentiert. Auch das ist ein kleines Wunder. Welche Bäuerin wäre damals auf die Idee gekommen, sich der Fotografie zu widmen? Auguste Städele schon. Vermutlich war sie die erste ihres Standes überhaupt, die eine Kamera in Händen hielt. 1879 geboren, wuchs sie in einer kinderreichen Familie auf. Nachdem ihr der Dorfpfarrer eine Plattenkamera überlassen und der Kaplan sie mit der Technik vertraut gemacht hatte, machte sie sich sogleich ans Werk. Ihre früheste erhaltene Aufnahme stammt aus dem Jahr 1898. Ihre Motive fand sie im Hochtal über dem Alpsee. Hier dokumentierte sie das bäuerliche Leben und die jahreszeitliche Rhythmik des Kirchenjahres, aber auch den Fortschritt, der unaufhaltsam in die Alpentäler vordrang und seinen Ausdruck in der Mode, im Fahrrad und im Grammophon fand.

Die Fotografin Auguste Städele wäre nie entdeckt worden, wenn nicht wieder der Zufall mitgespielt hätte. Vor einigen Jahren war der Volkskundler Jürgen Schmid zu Forschungszwecken im Allgäu unterwegs. In Missen erzählte ihm Viktoria Städele, auf ihrem Dachboden lägen noch alte Fotos ihrer Schwiegermutter. Es handelte sich um mehr als 500 Glasplatten-Negative, entstanden zwischen 1900 und 1920.

Teile dieser einzigartigen Foto-Chronik des Allgäuer Dorflebens zeigt jetzt das Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg in seinem Foyer, quasi als thematische Ergänzung zur aktuellen Landesausstellung "Die letzten Monarchen", die den großen Zeitenumbruch am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert. Die Schau wirft viele spannende Fragen auf: Warum hat die junge Bauerntochter mit dem Fotografieren begonnen, warum nach dem Ersten Weltkrieg aufgehört? Wie funktionierte der Betrieb in ihrem privaten Atelier , das im Garten des Bauernhofs mit bemalten Stoff-Kulissen aufgebaut wurde?

Die Zeit um 1900 - alles ist im Umbruch. Im Allgäu hielten die Fotopioniere noch das Gewohnte, aber auch schon das Neue fest. Neben Städeles Bildern wird in Regensburg das Werk der Brüder Heimhuber aus Sonthofen präsentiert. Auch wenn sie einst nur 15 Kilometer Luftlinie voneinander trennten, könnten die Unterschiede nicht größer sein: hier die fotografierende Bäuerin, dort zwei Sprösslinge eines Hoffotografen mit Atelier und Verlag im Rücken.

Der Vater von Fritz (1877-1963) und Eugen Heimhuber (1879-1966) hatte 1876 in Sonthofen sein erstes Atelier eingerichtet und wurde 1899 zum "Königlich Bayerischen Hofphotographen" ernannt. Die Brüder traten mit jeweils 13 Jahren als Lehrlinge ins Geschäft ein und entdeckten fortan fotografisch die schroffe Bergwelt. Sie bauten ihre ersten Skiausrüstungen selbst, stiegen in die Skifabrikation ein und hinterließen circa 18000 Plattenaufnahmen.

Auguste Städele heiratete 1906 den Landwirt, Postverwalter und späteren Bürgermeister Franz Josef Städele. An Arbeit wird es ihr nicht gemangelt haben, zumal in jenen Jahren, in denen ihr Mann in den Krieg ziehen musste. Sie brachte sieben Kinder zur Welt, von denen sechs im Kindesalter oder im Krieg starben. Warum sie die Fotografie nach dem Krieg aufgab, ist ein Rätsel. Ihre letzte Aufnahme stammt aus dem Jahr 1930. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab sie ihre Ausrüstung weg. Welch einen meisterhaften Blick und welchen Sinn fürs Komische sie hatte, zeigt die perfekt inszenierte Aufnahme, die sie 1927 von ihrer Mutter Josefa machte. Genau über deren Kopf erscheint ein Radler, gestoppt vom langen Pfahl, der aus Josefas Kopf wächst. Ihr Nachlass nimmt eine einzigartige Stellung in der Kultur- und Fotogeschichte ein. Es erinnert ein wenig an das Werk der amerikanischen Streetfotografin Vivian Maier, die von Beruf Kindermädchen war und unauffällig lebte. Ihre Fotografien von Weltrang wurden ebenfalls erst nach ihrem Tod entdeckt.

Bayerische Fotopioniere - Auguste Städele und die Heimhuber-Brüder aus dem Allgäu. Foyer des Hauses der Bayerischen Geschichte, Regensburg, bis 20. März 2022. Die Ausstellung ist täglich außer Montag von 9 bis 18 Uhr kostenfrei zugänglich.

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