Süddeutsche Zeitung

Prozess in Nürnberg:Intersexuelle verklagt ihre Ärzte

Lesezeit: 3 min

Von Katja Auer, Nürnberg

Ein Mädchen ist 1974 in einer mittelfränkischen Kleinstadt auf die Welt gekommen, zumindest sah es ganz danach aus. Zwar war das Kind ein wenig burschikos, spielte gerne mit Jungs, aber das kann ja mal sein. Als das Mädchen mit knapp 20 Jahren allerdings immer noch keine Periode hat und die Brüste einfach nicht wachsen, geht es zu einer Gynäkologin. Die stellt fest, dass der Busen nur schwach ausgebildet, die Klitoris dagegen etwas groß geraten ist. Die Ärztin überweist die junge Frau an das Uniklinikum Erlangen. Dort wird eine Bauchspiegelung durchgeführt, ihre Eierstöcke sollen verkümmert sein, sie wird mit Östrogenen behandelt und ihre Klitoris wird operativ verkleinert.

Unnötig war das, sagt Michaela Raab heute. Deswegen hat sie die Uniklinik Erlangen verklagt. Weil sie behandelt, aber nicht richtig aufgeklärt worden sei. Denn Michaela Raab war gar keine "komische Frau", wie sie sich selber lange vorgekommen sei. Sie hatte zwar weibliche Geschlechtsorgane, aber statt zweier X-Chromosomen ein X- und ein Y-Chromosom, wie es bei Männern üblich ist. Michaela Raab trägt also die Merkmale beider Geschlechter in sich, sie ist intersexuell. Nur wusste sie das lange nicht.

Raab fordert eine Viertelmillion Schmerzensgeld

Die Gynäkologin hatte das Y-Chromosom zwar festgestellt und das auch der Uniklinik mitgeteilt. Nur Michaela Raab hat es keiner gesagt. Jetzt fordert sie eine Viertelmillion Euro Schmerzensgeld und eine monatliche Rente von 1600 Euro. Am Donnerstag begann der Zivilprozess in Nürnberg.

Es soll geklärt werden, ob Michaela Raab richtig behandelt wurde. Vor dem Justizpalast haben sich eine Handvoll Demonstranten versammelt, sie fordern "Menschenrechte auch für Zwitter".

Drinnen gibt es Verständigungsprobleme. "Wenn ich Frau Raab sage, ist das ok?", fragt die Richterin. "Nein", antwortet die, "ich bin keine Frau."

Nach ihrer Hormonbehandlung wurde Michaela Raab krank. Sie litt unter Knochenschmerzen, Migräne, Sehstörungen, Depressionen. Heute ist sie erwerbsunfähig. Sie sei damals über die Tragweite ihrer Behandlung nicht aufgeklärt worden, sagt sie, geschweige denn habe sie eine Wahl gehabt."Wie hätte ich mich denn für etwas entscheiden sollen", sagt sie, "ich dachte ja, ich bin eine Frau." Erst 2004 hat sie erfahren, dass sie XY-Chromosomen hat.

Man habe die Diagnose damals lieber verschwiegen

"Ich glaube, das ist in dieser Generation von Ärzten sehr üblich gewesen, es nicht zu sagen", sagt der Lübecker Jugendmediziner Olaf Hiort, der als Spezialist für Hormonstörungen gilt und als Gutachter bestellt ist. Man habe damals angenommen, dass die Diagnose bei den Patienten einen so großen Schock auslöse, dass man es lieber verschwiegen habe. Die Menschen seien schon als Frau oder Mann sozialisiert worden, deswegen habe man die Verunsicherung wohl vermeiden wollen. Da lacht Michaela Raab bitter auf.

Rechtsanwalt Frank Kroier, der den beklagten Arzt des Uniklinikums vertritt, betont, dass auch dieser erzählt habe, dass man damals nicht darüber gesprochen habe. Das sei Konsens gewesen. "Jetzt im Nachhinein sollte man das nicht beanstanden", sagt Kroier.

"Der Kernpunkt ist, ob man Ihnen 1994 etwas hätte sagen müssen, was man Ihnen nicht gesagt hat", sagt die Richterin. "Und welche Konsequenz Sie daraus gezogen hätten." Denn es wird bald klar, dass intersexuelle Menschen heute anders behandelt werden. Individueller. Seit etwa 15 Jahren sei es überall üblich, Patienten über ihren Chromosomensatz zu informieren, sagt Hiort. Eine Hormontherapie sei allerdings immer noch sinnvoll, schon um Begleiterkrankungen wie Osteoporose zu verhindern und die allgemeine und sexuelle Lebensqualität zu steigern. Allerdings werde Patienten inzwischen freigestellt, ob sie Östrogene oder Testosteron nehmen wollen, ob sie also als Frau oder Mann leben wollen. Es gebe nur wenige Menschen, die sich für die gelebte Intersexualität entscheiden. Ob operiert werde, könnten Patienten ebenfalls selbst entscheiden. Damals allerdings sei eine geschlechtsangleichende Operation Standard gewesen.

Niemand fragte, ob sie als Mann leben wolle

Der Chromosomensatz sei nicht ausschlaggebend für das Geschlecht, sagt Hiort. Er sei nur eine Art Grundgerüst, eine Vorlage. Entscheidend seien das Erscheinungsbild und das Selbstverständnis. So gebe es auch Menschen mit dem XY-Chromosomensatz, die eine komplett ausgebildete weibliche Anatomie hätten. Sie habe damals niemand gefragt, ob sie als Mann leben wolle, sagt Michaela Raab vor Gericht. Und das sei ein Behandlungsfehler gewesen.

Heute nimmt sie Testosteron, seitdem gehe es ihr besser. Damals habe sie sich für abartig gehalten, der Klitoris-Verkleinerung habe sie nur zugestimmt, weil sie hoffte, sich danach besser zu fühlen. Hat sie aber nicht. Heute sagt sie: "Sie haben mir damals den Penis abgeschnitten. " Mit 34 Jahren hat sie entdeckt, dass es noch andere Menschen gibt wie sie. Schätzungsweise bis zu 80 000 in Deutschland. Sie stieß auf den Verein Intersexuelle Menschen, in dem sie aktiv ist. Der Fall in Nürnberg ist erst der zweite, der vor Gericht kommt. Nach einem unfreiwilligem Leben als Mann hatte im Jahr 2008 eine Krankenpflegerin in Köln einen Arzt wegen einer 30 Jahre zurückliegenden Operation verklagt. Das Landgericht entschied, der Eingriff sei rechtswidrig gewesen. Der Mediziner habe seiner damals 18 Jahre alten Patientin die weiblichen inneren Geschlechtsorgane entfernt, ohne sie vorher umfassend über ihren Chromosomensatz aufgeklärt zu haben.

Der Prozess in Nürnberg wird fortgesetzt.

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Quelle:
SZ vom 27.02.2015
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