Süddeutsche Zeitung

Millionenschaden:Wenn der Arzt betrügt

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Erfundene Abrechnungen, gefälschte Rezepte, gepanschte Arzneien: In den Jahren 2014 und 2015 hat die AOK Bayern 5000 Fälle von Verstößen im Gesundheitssystem aufgedeckt. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Von Dietrich Mittler, München

Betrügern und Tricksern wird nach Ansicht der AOK Bayern immer noch zu viel Spielraum gelassen, um sich im Gesundheitssystem regel- und gesetzeswidrig Geld zu erschleichen. Im Zeitraum von 2004 bis 2015 hat die AOK-Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einen durch Betrug entstandenen Schaden "in Höhe von mehr als 60 Millionen Euro festgestellt", wie Bayerns mitgliederstärkste Kasse am Mittwoch in München bei der Präsentation ihres jüngsten Tätigkeitsberichts mitteilte.

"Dabei muss uns klar sein, dass es sich hierbei nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Aber wir konnten 41 Millionen Euro zurückholen und in die Gesundheit unserer Versicherten investieren", betonte Matthias Jena, der als bayerischer DGB-Chef dem AOK-Verwaltungsrat vorsitzt.

Allein in den Jahren 2014 und 2015 habe die vor zwölf Jahren eingerichtete Stelle mehr als 5000 Fälle von Fehlverhalten aufdecken können, sagte Helmut Platzer, der Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern - begangen etwa von Ärzten, Apothekern, Physiotherapeuten, aber auch von AOK-Versicherten sowie bisweilen gar von deren Arbeitgebern.

Ein besonders dreister Fall ist Dominik Schirmer, dem AOK-Beauftragten zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen, noch gut im Gedächtnis: "Da haben wir etwa an eine physiotherapeutische Praxis Krankengeld bezahlt, gleichzeitig aber wurden von dem angeblich kranken Physiotherapeuten Patientenbehandlungen abgerechnet."

Noch unverfrorener geht seit Jahren bereits ein Facharzt für Allgemeinmedizin aus Nordbayern vor, wie Schirmer berichtet: "Seit 2004 können wir nachweisen, dass er krumme Dinger macht. Der geht so weit, dass er jedes Quartal von all seinen Helferinnen und deren Familienangehörigen die Versichertenkarte einfordert und Leistungen abrechnet, die er gar nicht erbracht hat." Kontinuierlich berechne dieser Arzt auch Notfälle. Das gipfele darin, "dass er regelmäßig seine Ehefrau als Notfallpatientin abrechnet".

Doppelabrechnung von Leistungen und Fälschung von Rezepten

"Wir werden dann tätig, wenn wir den Verdacht haben, betrogen zu werden", sagte Schirmer. Es gehe also gar nicht um Fälle, in denen irrtümlich Leistungen falsch abgerechnet wurden. Erhärte sich aber der Betrugsverdacht, werde Anzeige erstattet. Nach Angaben von AOK-Chef Platzer wurden im Zeitraum 2014/2015 knapp 400 Fälle der Staatsanwaltschaft übergeben. Bei nahezu all diesen Fällen habe die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen.

Nicht zwangsläufig aber werde das aufgedeckte Fehlverhalten im Gesundheitsbereich vor Gericht geahndet. Das liege zum einen an der Komplexität der Materie, zum anderen aber auch daran, dass die Kasse bereits in Fällen aktiv werden müsse, die bei der Staatsanwaltschaft noch nicht als unbedingt strafrelevant erachtet werden. "Aber diese unsere Botschaft ist eindeutig: Wir holen uns das falsch abgerechnete Geld zurück", sagte Schirmer.

AOK-Chef Helmut Platzer stellte indes klar, dass es hier nicht darum gehe, die im Gesundheitswesen und Pflegebereich Tätigen unter Generalverdacht zu stellen. Nach Berechnungen der AOK macht der Anteil der ermittelten Schäden durch Fehlverhalten gerade einmal 0,03 Prozent der Gesamtausgaben der Kranken- und Pflegeversicherung aus. "Die Zahl lässt erkennen, dass die meisten Leistungserbringer ehrlich abrechnen", sagte ein Sprecher der AOK.

Der AOK-Verwaltungsvorsitzende Jena will jedoch auch nicht verhehlen, dass er sich von den vielen sauber abrechnenden Akteuren - insbesondere aber von den Pflegeverbänden - mehr Kooperation im Kampf gegen unsaubere Kollegen erwarte. Die aufgedeckten Verstöße seien vielfältig: Sie reichten von der Abrechnung nicht erbrachter Leistungen über die Manipulation von abrechnungsrelevanten Unterlagen bis zu Betrügereien bei den Anfahrtspauschalen.

AOK will bundesweites Zentralregister, das Betrugsfälle speichert

Lang ist auch die Liste, die Jena in Bezug auf Betrugsfälle im medizinischen Bereich nennen kann: Missbrauch der elektronischen Krankenversichertenkarte, Doppelabrechnung von Leistungen, Abrechnung von Leistungen, die gar nicht erbracht wurden, Fälschungen von Rezepten und Verordnungen. Besonders verwerflich sei indes, wenn mit betrügerischen Vorsatz Medikamente zusammengepanscht und dann - wie geschehen - krebskranken Menschen verkauft würden. "Hier geht es uns nicht ums Geld, sondern um die Gesundheit unserer Versicherten", hieß es seitens der AOK-Verantwortlichen.

Gleich mehrere Forderungen hat die AOK an die Politik - eine davon ist ein bundesweites Zentralregister, das personenbezogen Betrugsfälle speichert. Sprich: ein Register, das erfasst, wem wegen Abrechnungsbetrug die Zulassung entzogen und die Führung eines Pflegebetriebs untersagt wurde. "Es ist völlig untragbar", sagte Jena, "dass heute noch Betrüger einfach in ein Bundesland weiterziehen und dort eine neue Zulassung beantragen können, ohne dass die Kranken- und Pflegekassen über die kriminelle Karriere informiert sind".

Gesundheitsministerin Melanie Huml würdigte am Mittwoch "ausdrücklich" die erfolgreiche Arbeit der AOK-Stelle gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen, betonte aber zugleich, der aktuelle AOK-Bericht sei ihrem Haus als Aufsichtsbehörde vorzulegen. "Dies ist derzeit noch nicht geschehen", monierte die Ministerin.

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SZ vom 18.08.2016
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