Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Hunger, Maut und Wildsauplage

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Von Hans Kratzer, München

Vier Monate nach Kriegsende herrschten in Bayern Not und Elend. Trotzdem mussten damals Hunderttausende hungernde Menschen zusätzlich versorgt werden. Im Ministerratsprotokoll vom September 1945 ist festgehalten, dass 200 000 Kriegsgefangene, 21 000 Zivilinternierte, 65 000 Versprengte, 210 000 Ausländer und 70 000 Flüchtlinge aus Ungarn zu ernähren seien. Zusammen machte das 560 000 Personen, der Höchststand lag in jenen Tagen bei 1,25 Millionen.

Wie dieses Beispiel zeigt, sind die Ministerratsprotokolle eine höchst aufschlussreiche und nicht selten sogar erschreckende Informationsquelle. Umso erfreulicher aus heutiger Sicht: Die 536 Sitzungsprotokolle vom 8. Juni 1945 bis zum 28. Dezember 1951 wurden jetzt im Internet zur allgemeinen Einsicht freigeschaltet. Nach und nach sollen auch die späteren Protokolle bis zum Beginn der Ära Goppel im Jahr 1962 im Internet veröffentlicht werden. Das hat die Staatsregierung so beschlossen.

Die Ministerratsprotokolle geben umfassende Einblicke in die Beratungen der Staatsregierungen und damit in die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Bayerns in den Jahren des Neuanfangs. Die Online-Edition ist übersichtlich gestaltet, die Texte werden ergänzt durch Kommentare sowie durch Personen-, Orts- und Sachregister. Somit lassen sich schnell und bequem Aufschlüsse über Orte und Personen gewinnen.

"In den Sitzungen wurden ja auch Personalia behandelt", sagt Karl-Ulrich Gelberg, der Geschäftsführer der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, welche die Edition wissenschaftlich verantwortet. Bis hin zur möglichen NS-Belastung von Amtsträgern sind in den Protokollen viele Fakten klar dokumentiert.

Auf dieser Basis lassen sich unter anderem aufschlussreiche Profile über damalige Politiker gewinnen. Der Leser erfährt, was die Minister seinerzeit sagten und wozu sie sich überhaupt äußerten. So zeigt sich, dass Ministerpräsident Hanns Seidel (CSU) schon frühzeitig zu allen möglichen Themen Stellung bezog. Die als Strippenzieher bekannt gewordenen Josef "Ochsensepp" Müller und Alois Hundhammer (beide CSU) aber blieben im Kabinett oft unbeteiligt. "Die redeten nicht viel, das ist erstaunlich", sagt Gelberg.

"Wir verplempern unsere Zeit"

Die Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (SPD) und Hans Ehard (CSU) wiederum agierten stets dominant, als Juristen waren sie unangefochten. Dementsprechend verärgert reagierten sie, wenn über Dinge debattiert wurde, die vorher im Ressort vergeigt wurden und nicht beschlussreif waren. "Wir verplempern unsere Zeit", pulverten sie.

Oft ging es bei den Beratungen um Flüchtlingsfragen, um den demokratischen Neuanfang in Bayern und um den personellen Wiederaufbau von Verwaltung und Justiz. Es wird aber auch deutlich, dass manche Politikthemen echte Dauerbrenner sind. Im Januar 1946 wurde etwa über die Wiedereinführung der 9. Klasse am Gymnasium diskutiert, die dann 1951 realisiert wurde. Auch über die Maut wurde schon im Jahr 1951 gestritten. Die Themenpalette ist schier unerschöpflich. In den Protokollen findet sich die Frage nach Theaterfreiplätzen für die Ministerien ebenso wie die Beleidigung des Heiligen Vaters im "Simpl". Und immer wieder tauchen Fragen zum Bierpreis und zur Wildschweinplage auf.

Denkwürdig war die Sitzung vom 9. August 1951. Kurz vorher hatte der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy bei der Eröffnung der Bayreuther Festspiele dem Ministerpräsidenten Hans Ehard eine Karte übergeben, in die das von den Amerikanern zusätzlich beanspruchte Gebiet in Hammelburg eingezeichnet war. Immerhin mussten dort zur Erfüllung der Ansprüche der US-Armee viele Menschen umgesiedelt werden. Das Thema verweist auf einen Schwerpunkt der damaligen Beratungen im Ministerrat: das nicht immer einfache Verhältnis zur amerikanischen Militärregierung und zur Besatzungsarmee.

Die Textgrundlage der Edition bilden die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München aufbewahrten hektografierten Exemplare der Protokolle. Der Benützer der Online-Edition kann nun nicht nur die Originale studieren. Er erhält zusätzlich Anmerkungen und Erläuterungen sowie Verweise auf weiterführende Literatur.

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Quelle:
SZ vom 19.07.2017
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