Süddeutsche Zeitung

Fränkische Schweiz:Wie die Gruppe 47 die letzte Hinrichtung in der Pulvermühle inszenierte

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Im Landgasthof Pulvermühle trafen sich 1967 die führenden Intellektuellen des Landes - Grass, Walser, Härtling. Und irgendwann wagt der Neuling Guntram Vesper, ein paar seiner Gedichte vorzulesen.

Von Olaf Przybilla, Waischenfeld

Die Stadt Waischenfeld wird in dieser Woche 700 Jahre alt, da versteht es sich, dass auch dunkle Zeiten darunter waren. Dass aber seit der letzten Hinrichtung nur 48 Jahre vergangen sind, das darf einen dann doch verblüffen. Der Delinquent hieß Guntram Vesper, ein Dichter, der - ein ungewöhnlicher Glücksfall - seine Exekution selbst in Worte zu fassen vermochte. Sein Text heißt: "Eingeladen, meiner Hinrichtung beizuwohnen."

Entstanden ist sein Hinrichtungstext 1967, als Hans Werner Richter die führenden Dichter und Kritiker Deutschlands in die Fränkische Schweiz eingeladen hatte. Die Gruppe 47, eine Art immerwährende Intellektuellen-Runde der Nachkriegszeit, traf sich seit 1947 unregelmäßig und mit Vorliebe in der Abgeschiedenheit, um ungestört über Literatur streiten zu können. Die "Pulvermühle" in Waischenfeld war für Richter, den Zampano der Gruppe, offenbar hinreichend abgeschieden.

Wer den Ort knapp 50 Jahre später besucht, kann das gut nachvollziehen. Jedenfalls verhalf die Lage an der plätschernden Wiesent dem Städtchen Waischenfeld zu einem Platz in der deutschen Literaturgeschichte. Es dürfte kaum ein Standardwerk der Nachkriegsliteratur geben, in denen die Pulvermühle keine Rolle spielt.

Streitgespräche in prominenter Runde

Das tumultartige Treffen in Franken galt schon bald als die spektakulärste Zusammenkunft von Grass, Walser, Reich-Ranicki und Kollegen. Und es war gleichzeitig das letzte Mal, dass man in so prominenter Runde aufeinanderprallte. Aufgelöst wurde die Gruppe 47 zwar erst zehn Jahre nach Waischenfeld. Waischenfeld aber markierte gleichzeitig Höhepunkt wie beginnenden Niedergang der Literatengruppe.

Vesper, der Mann, der seine eigene Hinrichtung schildert, war erstmals eingeladen. Er beschreibt, wie plötzlich ein Brief von Richter im Kasten liegt, er auf ein Bild der Pension Pulvermühle blickt - "solide Gebäude aus deutscher Feudalzeit" - und er sich beim Gedanken erwischt: "In denen wirst du also drei Tage zubringen." An einem windigen Donnerstag im Spätherbst macht er sich in einem geliehenen Opel Rekord, Baujahr 1963, nach dem Mittagessen auf den Weg nach Waischenfeld. Er umfährt Forchheim, dann kommt lange nichts, bis zwischen Buchen ein Spruchband "Herzlich Willkommen" darauf hindeutet, dass er angekommen ist.

In der Stube ist schon was geboten, Günter Grass isst Abendbrot, Martin Walser gestikuliert, Peter Härtling trinkt Bier. Die folgenden Tage werden aufregend, rebellierende Studenten stehen vor der Mühle, sie fordern klare Bekenntnisse, für was wird nicht ganz klar, vermutlich aber für den literarischen Klassenkampf und gegen Papiertiger und Springerpresse, es kommt zu Tumulten. Plötzlich, notiert Vesper, sieht "alles gar nicht mehr so fränkisch aus, ging aber vorbei, ehe Richter die Polizei holte".

Man zieht sich ins Haus zurück, wer Lust hat, schreibt Vesper, "kann sehen, wie im Garten Bild-Zeitungen verbrannt werden". Am nächsten Tag muss er trotzdem seine Gedichte vorlesen, fünf trägt er vor, die Reaktion ist gesammeltes Schweigen. Erich Fried will, dass er das bitte alles noch einmal liest, danach fordert Richter zur Debatte, und immerhin: Peter Rühmkorf lobt und Walter Höllerer lobt auch. Im Gedächtnis bleibt aber, womöglich aus nachvollziehbaren Gründen, in erster Linie anderes: "Grass findet schlecht, Reich-Ranicki entsetzlich, ganz schrecklich."

Bis heute ist Waischenfeld ein abgelegener Ort

So war das bei der letzten Hinrichtung von Waischenfeld, Michael Fink hat die Fotodokumente noch an der Wand hängen. Der Pulvermühlen-Pächter stammt aus Schwaben, vor ein paar Jahren hat er eine Gastwirtschaft gesucht, die erschwinglich wäre. Er stieß auf eine Mühle in Franken, ein hübscher Ort am Fluss, Übernachtungsmöglichkeiten, ruhig, bezahlbar: passt. Gruppe 47 in der Mühle? Hatte er zuvor nie gehört. Konnte er dann aber nicht mehr übersehen, als er seine neue Heimat betrat. Die Fotos an der Wand von Grass und Kollegen, der Glaskasten an der Tür mit einem ganzseitigen Text von Joachim Kaiser. "Doch, spannend", findet Fink.

Wer ihn in diesen Tagen besucht, platzt in Renovierungsarbeiten. Im Winter, sagt Fink, rentiere es sich nicht, die Mühle aufzusperren. Auch nicht im Jubiläumsjahr? Waischenfeld feiert im Dezember 700. Geburtstag, man hat schon im Sommer mit einem Chor aus 700 Sängern und prächtiger Stadtillumination Publikum angelockt, da müsste doch auch jetzt noch was gehen?

Fink lächelt ein bisschen mitleidig. Die Fränkische Schweiz, sagt er, ist ein Touristentraum von Frühling bis Herbst: Bootfahren, Wandern, Klettern, wunderbar. Im Winter aber renoviere er lieber. Und wenn doch einer spontan komme und die Relikte der Gruppe 47 ansehen wolle, die Bilder an der Wand und den Glaskasten mit dem Kaiser-Text, dann dürfe der das ja gerne tun. Klingeln müsse er halt. Deshalb immerhin entschied sich ja Richter für Waischenfeld: der Abgeschiedenheit wegen.

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SZ vom 08.12.2015
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