Süddeutsche Zeitung

Bürgerentscheid:Debatte um das Tor zur Stadt

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In Memmingen entscheiden die Bürger über die Zukunft des Bahnhofsareals. Ein Investor plant einen Supermarkt, ein Hotel und viel Gewerbefläche. Eine Bürgerinitiative wünscht sich mehr Wohnraum und mehr Platz

Von Florian Fuchs, Memmingen

"Herzlich Willkommen in Memmingen", steht da also auf einem Plakat direkt gegenüber vom Bahnhof, Richtung Altstadt. Bestimmt ist das nett gemeint, das Problem ist bloß, dass der Besucher das herzliche Willkommen als wenig herzlich empfindet, wenn so ein Plakat an einem Bauzaun hängt, halb zerfleddert. Hinter dem Zaun lugt Gestrüpp hervor, die Gebäude rechts davon wirken auch nicht gerade einladend mit der Spielhalle, dem Wettanbieter und der Werbung für ein Mittagsmenü, vier Euro. Dass das alles weg muss, da sind sie sich einig in Memmingen. Wie es umgebaut wird, darüber soll am 26. Mai parallel zur Europawahl in einem Bürgerentscheid abgestimmt werden. Der Stadtrat will die Fläche einem Investor zur Überplanung zusprechen. Eine Bürgerinitiative setzt sich vehement dagegen ein.

Das Areal zwischen Bahnhofstraße, Kalchstraße, Heidengasse und Maximilianstraße ist "das Einfallstor zur Altstadt", so bezeichnen es unisono Oberbürgermeister Manfred Schilder wie auch Franziska Mamitzsch und Jakob Gutermann von der Bürgerinitiative bf/4. Gleich dahinter ist es nicht weit zum Marktplatz und zur Martinskirche. Stadt der Tore und Türme, Giebel und Fassaden nennt sich Memmingen, da ist es ganz passend, dass sich ein Teil der Bürger und die Mehrheit des Stadtrats nun darüber streiten, ob der Investor Ten Brinke Group aus den Niederlanden, der auch in Regensburg eine Niederlassung unterhält, dort einen Riegel mit einem großen Supermarkt, einem Hotel und Gewerbe hinstellt. Oder ob doch noch einmal umgeplant wird und eine, wie die Bürgerinitiative es formuliert, für Fußgänger durchlässige Bebauung entsteht, mit mehr Freiraum und auch mehr Wohnraum.

"Die Stadt denkt wenig über den Bordstein hinweg", kritisiert Franziska Mamitzsch. 30 Prozent des etwa 7500 Quadratmeter großen Areals gehören Memmingen selbst, 60 Prozent befinden sich im Besitz einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft, zehn Prozent der Gebäude bleiben weiterhin im privaten Besitz: Das denkmalgeschützte Café "Goldenes Rad" etwa, das aber auch saniert werden soll. "Wir verstehen nicht, wie die Stadt solch einen Grund an einen Investor abgeben kann, anstatt dort selbst zu gestalten", sagt Mamitzsch' Mitstreiter Gutermann.

Dabei sind die Pläne nicht gerade neu: Bereits im Jahr 2010 gibt es erste Diskussionen, wie das Viertel aufgewertet werden könnte. Es entsteht ein Einzelhandels- und Verkehrsgutachten, im Juli 2014 findet eine Informationsveranstaltung in der Stadthalle statt. 45 Millionen Euro sollen investiert werden, ein Volumen, das "der Stadt zu groß" sei, sagt der Oberbürgermeister. Also fällt die Entscheidung für einen Investorenwettbewerb, acht Teilnehmer reichen Entwürfe ein, doch zwischen 2014 und 2018 passiert nicht viel. Dann bleiben zwei Vorschläge von Investoren übrig, alle anderen steigen aus. Anfang 2018 entscheidet sich der Stadtrat für die Pläne von Ten Brinke: eine Tiefgarage mit mehr als 300 Parkplätzen, ein Vollsortimenter, der Kritikern zufolge samt Anlieferzone 2500 Quadratmeter beansprucht, viel Hotelfläche mit 110 Zimmern und Gewerbe - aber kaum Platz zum Verweilen, dafür Lkw-Anlieferzonen direkt von der Bahnhofstraße weg, für den Supermarkt.

Das Architekturforum Allgäu kritisiert die Pläne, im Memmingen tun sich verschiedene Vereine zusammen, um eine Bürgerinitiative zu formen. Sie organisieren Stadtspaziergänge, um über die historischen Gebäude auf dem Areal und die Pläne des Investors aufzuklären, das Interesse ist groß, teilweise kommen 200 Leute. Die Bürgerinitiative kritisiert nicht nur, dass öffentliches Gut privatisiert wird. Aus Sicht der Initiatoren gibt es zu wenig Wohnraum, auch wenn die Stadt bereits nachgebessert hat. Inzwischen sind 60 Wohnungen vorgesehen, ursprünglich waren es neun. Im Areal sei Architektur aus fünf Jahrhunderten zu finden, bis hin zu Resten der Stadtmauer. Durch die Tiefgarage und den Supermarkt werde noch mehr Verkehr in die Bahnhofstraße geleitet, wo eher eine Verkehrsberuhigung angebracht wäre. "Und die Funktion eines Tors in die Stadt würde das Gelände nach den Plänen wieder nicht erfüllen." Die Kunsthalle gegenüber der Bahnhofstraße etwa würde gar nicht in die Architektur einbezogen.

Oberbürgermeister Schilder kann die Aufregung nur bedingt nachvollziehen. "Bei der Anzahl der Wohnungen haben wir doch darauf gepocht nachzubessern", sagt er. Auch habe die Stadt darauf gedrängt, die Fassaden weniger wuchtig zu gestalten. Und die Anlieferzone für den Supermarkt könne man doch schlecht in die ruhigen Seitenstraßen lenken. "Wir geben die Handlungshoheit ja nicht komplett aus der Hand", sagt Schilder. Und auch in Zukunft, falls die Bürger nach dem Entscheid der Position der Stadt mehrheitlich zustimmen, würden die Pläne öffentlich ausgelegt und Einwendungen berücksichtigt, bevor 2020 mit den Arbeiten begonnen werden soll. "Dass hier keine Beteiligung stattfindet, kann ich nicht bestätigen." Schilder warnt allerdings davor, dass sich die Bauarbeiten um Jahre verzögerten, wenn sich die Bürgerinitiative durchsetze.

Die Initiatoren dagegen finden, dass eine Neuplanung so lange nun auch wieder nicht dauern würde. Sie wünschen sich einen Planungsprozess unter Begleitung von städtebaulichen Experten. Dann könne man auch wichtige Fragen wie die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs am Bahnhof und Wohnformen der Zukunft in das Projekt einbeziehen. Punkte, die ein Investor eben nicht im Blick habe, kritisieren Mamitzsch und Gutermann.

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Quelle:
SZ vom 17.05.2019
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