Süddeutsche Zeitung

Pokémon, Comics und Gedichte:Die Kunst der Wahrnehmung

Lesezeit: 4 min

Die 18-jährige Annika Heindle ist eine echte Allrounderin bei ihrer Schülerzeitung. Sie zeichnet Comics, schreibt Gedichte und Texte und macht Umfragen. Ein Besuch an ihrem kreativen Arbeitsplatz in Taufkirchen an der Vils.

Von Jasinta Then, Taufkirchen (Vils)

Eines Abends überkam es sie. Den letzten Vers ihres Gedichts hatte sie schon im Kopf: " No one knows - and that is the art of perception." Zu Deutsch: "Keiner weiß es - und das ist die Kunst der Wahrnehmung." Von da an lief es bei Annika Heindle wie von selbst. In den frühen Morgenstunden hatte sie dann drei Strophen und 24 Verse verfasst. "The Art of Perception", schrieb sie über ihr Werk - eine Mahnung an junge Menschen, sich selber nicht zu kritisch zu betrachten. Ihr zweites Gedicht überhaupt. "Es kam richtig aus dem Herzen", sagt sie.

Ein Junivormittag in Taufkirchen an der Vils, ein Dorf wenige Kilometer östlich von Erding. Annika Heindle, 18 Jahre, sitzt mit schwarzem Oberteil, zurückgebundenen Haaren und leicht geschminkt an ihrem Arbeitsplatz. Der besteht aus einem Schreibtisch mit zwei Monitoren, bunt beleuchteter Tastatur und einer Maus in ihrem Zimmer, das zugleich auch ihre Kreativwerkstatt ist.

Zwei Jahre hat sie bei der Schülerzeitung Wortwechsel der FOS/BOS Erding gearbeitet. Dort ist sie die Frau für alles: Sie zeichnet Comics und Karikaturen, schreibt Texte und Gedichte und entwirft Umfragen für den Wortwechsel. Diese hat sich auch in diesem Jahr wieder beim Blattmacher- Schülerzeitungswettbewerb von SZ, Kultusministerium und Nemetschek-Stiftung beworben.

Heindle öffnet ein Textdokument auf dem Computer. "Corona und die Zeit" steht darüber, es sind die Ergebnisse einer Umfrage, die sie für die aktuelle Ausgabe der Schülerzeitung gemacht hat. Wie würdest du die Corona-Zeit in nur einem Wort beschreiben? Was hast du währenddessen gemacht? Hast du die Phase gut genutzt? Das Ziel der Abiturientin war es, ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu zeigen: "Es geht vielen Leuten genauso wie dir, und du bist nicht alleine." Es kam raus: Die meisten Mitschüler erlebten die Zeit als eher durchwachsen.

"Wir müssen unsere Chancen mehr wahrnehmen!"

Ihren gesellschaftskritischen Blick verarbeitet sie auch kreativ. Sie zieht mehrere Blätter aus einem Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. Darauf hat sie einen zweiseitigen Comic im Mangastil gezeichnet. Er handelt von zwei Schülern. Es bieten sich ihnen viele verschieden Chancen, wie an einer Englandreise teilzunehmen, sich für einen Aushilfsjob zu bewerben oder nach einigen Jahren ein Projekt im Job zu leiten. Der eine der beiden ergreift die Chancen jedoch nicht, vermutlich, weil sie ihm zu aufwendig sind. Der andere nimmt sie wahr und brilliert. "Nimmst du deine Chancen wahr?", fragt Heindle am Ende des Comics. "Im Leben bieten sich doch so viele Möglichkeiten", sagt sie. Doch viele seien zu bequem, diese auch zu nutzen.

Heindle selber wirkt dagegen wie eine, die genau weiß, was sie will. Bevor sie etwas sagt, überlegt sie erst kurz, ihre Sätze sind klar und bedacht. So geht sie auch ihre Zeichnungen und Texte an. Für ihren Comic zum Thema "Chancen im Leben" notierte sie sich zuerst wie immer die Idee. Auch die Mutter half beim Brainstorming. Als genug Zeit war, stürzte sie sich in die Arbeit. Meistens abends in ihrer kreativen Schaffensphase und meistens mit Musik. Dann fertigt sie eine grobe Skizze an. Wichtige Einzelheiten skizziert sie auf einem eigenen Blatt Papier. Das fertige Gesamtwerk zeichnet sie zum Schluss auf ein neues Blatt. Oft, sagt sie, fühle sie sich dabei wie in einer anderen Welt. Sie vergesse die Zeit, zeichne auch mal bis halb eins nachts.

Schon in jungen Jahren hat sie sich kreativ ausgelebt und sich autodidaktisch das Zeichnen beigebracht. Intensiv begann Annika Heindle damit in der fünften Klasse, damals vor allem inspiriert durch Anime-Serien. So entdeckte sie ihren eigenen Mangastil, den sie selbst als "unrealistisch" und "übertrieben" beschreibt. Später in der elften Klasse kamen realistische Zeichnungen dazu, die sie bis heute anfertigt. Dabei handelt es sich um Portraits von Menschen.

Heindle scrollt mit dem Finger über den Bildschirm ihres Smartphones und öffnet eine Tabelle. Inhaltstitel, Autor, Status - es ist das Tool, über das ihre Schülerzeitungsredaktion die Planung der Ausgaben organisiert. Obwohl sich das Team wegen Corona in diesem Schuljahr nur einmal zusammenfand, hat die 23-köpfige Truppe eine vielfältige Ausgabe mit Artikeln, Gedichten, Glossen, Kommentaren und optischen Täuschungen zusammengestellt. Das übergeordnete Thema: Wahrnehmung. Die Idee stammt von ihr, erzählt Annika Heindle. Auf Social Media, sagt sie, werde viel getäuscht. "Das ist doch nicht die Realität, die da abgebildet wird."

Leidenschaftliche Gamerin

Manchmal entflieht aber auch sie der Realität. Seit sie fünf ist, spielt sie gerne am Computer. Pokémon, Minecraft, Call of Duty, Animal Crossing, Mario. Das Hobby möchte sie zu ihrem Beruf machen. Das Abi hat sie bereits in der Tasche. Von Oktober an plant sie, "Informatik: Games Engineering", also Spieleprogrammierung an der Technischen Universität München zu studieren. Ihre kreative Plattform, die Schülerzeitung, fällt dann weg. Aber vielleicht, sagt sie, könne sie in Zukunft ja mal nebenher für eine Zeitung zeichnen.

Dem Wortwechsel-Team dürfte sie fehlen, auch angesichts ihrer Vielseitigkeit. "Annika beherrscht als Redakteurin wirklich alle Facetten, vom Interview bis zu kreativen Formaten. Sie ist eine große Bereicherung für unsere Redaktion", sagt die Betreuungslehrerin des Wortwechsel, Karin Pfeiffer.

Aber vielleicht ist dies ja auch noch gar nicht das Ende. Zuletzt räumte der Wortwechsel beim Blattmacher-Wettbewerb die Bronzemedaille unter den bayerischen Berufsschulen ab. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja wieder einen Platz auf dem Treppchen, wenn am 18. Juli die besten bayerischen Schülerzeitungen aus diesem Schuljahr im SZ-Haupthaus prämiert werden. Kreativ bleibt Heindle so oder so. Ihr nächstes Gedicht hat sie bereits im Kopf. Es solle Kritik an Social Media üben, sagt sie.

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