Süddeutsche Zeitung

Bericht der Bildungsexperten:"Die Lehrer sind am Ende ihrer Kraft"

Lesezeit: 3 min

Von Tina Baier, München

Der Schüler ganz hinten rechts im Klassenzimmer ist eine einzige Provokation: Füße auf der Bank, Kaugummi im Mund, Herausforderung im Blick. "Nimm bitte die Füße herunter", sagt seine Lehrerin. Keine Reaktion. Die Lehrerin schimpft, schreit und wirkt dabei immer hilfloser. Schließlich droht sie mit dem Gang zum Rektor. Da steht der Junge aufreizend langsam auf. Er ist zwei Köpfe größer als seine Lehrerin.

"Komm, gema Rektorat", sagt er. Die kurze Filmsequenz, die Studenten während eines Eignungstests für den Lehrerberuf an der Universität Passau vorgespielt wurde, soll die angehenden Lehrer mit den Schattenseiten ihres Traumberufs konfrontieren. Denn viele von ihnen haben eine zu idealisierte Vorstellung. Nach einem im April vorgestellten Gutachten des Aktionsrats Bildung ist das einer der Gründe für die hohe Zahl von psychischen Problemen und Burnout bei Lehrern. Nach dem Gutachten des Expertengremiums, das von der bayerischen Wirtschaft gefördert wird, hat sich die Zahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Probleme seit dem Jahr 2000 fast verdoppelt. Betroffen seien bis zu 30 Prozent der Beschäftigten im Bildungswesen.

Regierungsparteien beschäftigen sich kaum mit dem Thema

Nach dieser alarmierenden Analyse hatte der Aktionsrat von der Politik mehr Prävention und mehr Unterstützung für betroffene Lehrer gefordert. Passiert ist seither so gut wie nichts, wie ein Zwischenbericht der Bildungsexperten zeigt, der am Mittwoch in München vorgestellt wurde. "Keine einzige Regierungspartei hat das Thema Burnout explizit auf die politische Agenda gesetzt", sagte Bettina Hannover, Expertin für Schul- und Unterrichtsforschung an der Freien Universität Berlin. Der Aktionsrat wirft den Politikern "mangelndes Problembewusstsein" und "mangelndes Wissen zum Stand der Dinge" vor.

So hätten sich deutschlandweit nur zehn Prozent der angeschriebenen schul- und hochschulpolitischen Sprecher sowie der Amtschefs der Kultusministerien überhaupt die Mühe gemacht, auf die vom Aktionsrat verschickten Fragebögen zu antworten. Für einen geplanten Workshop mit Vertretern der Politik habe es keine einzige Anmeldung gegeben.

Dabei seien psychische Belastungen bei Lehrern "ein quantitativ und qualitativ bedeutsames Problem" , sagte Bettina Hannover. Quantitativ, weil deutschlandweit zwischen 210 000 und 630 000 Beschäftigte im Bildungswesen davon betroffen sind, darunter 95 000 bis 285 000 Lehrer. Qualitativ, weil die Qualität des Unterrichts massiv leide. "Bei angenommenen 150 000 ausgebrannten Lehrkräften und durchschnittlich je 20 Unterrichtswochenstunden, kommt man auf drei Millionen Unterrichtsstunden pro Schulwoche mit verminderter Qualität", rechnete Hannover vor.

Von Burnout betroffene Lehrer sind emotional erschöpft ("Ich fühle mich schon müde, wenn ich morgens aufstehe und wieder einen Schultag vor mir habe") und haben das Gefühl, nicht mehr effektiv zu arbeiten ("Ich glaube nicht mehr daran, dass ich die Schüler durch meine Arbeit positiv beeinflussen kann"). Ein typisches Zeichen ist auch eine so genannte Depersonalisierung, die sich in Aussagen äußert wie "Seit ich Lehrer bin, bin ich gleichgültiger gegenüber Menschen geworden" oder "Bei manchen Schüler interessiert mich nicht, was aus ihnen wird."

Flächendeckende Hilfsangebote fehlen

"Angesichts der Tatsache, dass fast jede dritte Lehrkraft aufgrund von Arbeitsüberlastung und Belastungen durch schwierige Schüler und dauernde Lautstärke unter psychischen Problemen leidet, ist es unverständlich, dass flächendeckende Hilfsangebote fehlen", sagte Max Schmidt, Vorsitzender des bayerischen Philologenverbands. Dieter Kleiber, Professor für Public Health an der Freien Universität Berlin sieht es ähnlich. "Seit Jahrzehnten wird die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen betont, aber es passiert nichts", sagte er. In anderen Bereichen, etwa in der IT-Branche bekämen 70 Prozent der Mitarbeiter Präventionsangebote gegen Burnout. Im Bildungsbereich seien es dagegen nur 17 Prozent.

Dabei sind Lehrer dem Gutachten zufolge aus mehreren Gründen besonders gefährdet, an Burnout zu erkranken. Ein Risikofaktor ist demnach, dass sie einen großen Teil ihrer Arbeit zu Hause erledigen müssen. Damit sei die Gefahr verbunden, dass "das Lehrersein gewissermaßen das ganze Leben überwuchert". Als Folge gelinge die Trennung von Beruf und Privatleben nicht mehr.

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, geht die Ursachenanalyse des Aktionsrats nicht weit genug: "Es gibt viele objektive Stressfaktoren, die in dem Gutachten, gar nicht erwähnt werden", sagte er. Dazu gehört seiner Ansicht nach die "chronische Reformitis" der Bildungspolitiker sowie die ständig steigenden Anforderungen zum Beispiel durch die Inklusion von behinderten Kindern in Regelklassen. "Die meisten Regelschulen sind noch immer weder personell noch räumlich auf Kinder mit Handicaps vorbereitet", sagte Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrerverbands (BLLV). Das führe im Schulalltag zu erheblichen Problemen. "Die Lehrer sind am Ende ihrer Kraft."

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SZ vom 11.12.2014
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