Süddeutsche Zeitung

Türken in Bayern:"Es fehlt die Nestwärme"

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Vural Ünlü ist der Vorsitzende der liberalen Türkischen Gemeinde Bayern. Von der Politik im Freistaat vermisst er das Zeichen: Ihr seid ein Teil von uns.

Von Martina Scherf

Es gibt ein Zitat von Vural Ünlü, das immer noch gelegentlich die Runde macht: "Ich wünsche mir ein Bayern, in dem die Zuagroastn ein organischer Bestandteil sind. In dem nicht nur die vier alten Volksstämme Franken, Schwaben, Altbayern und Sudetendeutsche verwurzelt sind, sondern in dem als fünfter Stamm alle Migranten angekommen und verankert sind."

Ünlü hatte es 2015 in seiner Begrüßung zum Sommerfest seines Verbandes gesagt, anwesend war auch der Ministerpräsident. "Das war ein etwas stichelnder Kommentar zur bayerischen Politik, den Herr Seehofer damals nicht goutiert hat", sagt Vural Ünlü und lächelt süffisant.

Ünlü, 47, ist der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Bayern (TGB), des Dachverbandes einer Vielzahl von liberalen Vereinen, die sich um das bessere Zusammenleben von Deutschen und Türken kümmern. Ünlü übt dieses Amt seit zehn Jahren sehr souverän und selbstbewusst aus. Er sucht die Nähe zur Politik und bewegt sich sicher auf jedem Parkett. Der promovierte Medienökonom ist nicht nur in zwei Kulturen zuhause, der deutschen und der türkischen, er unterhält sich genauso unvoreingenommen mit dem "Gastarbeiter" wie mit dem Ministerpräsidenten.

Seit jenem Sommerfest hat sich das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland massiv verschlechtert. Böhmermanns Schmähgedicht gegen Erdogan, Özils Foto mit dem türkischen Präsidenten, die Spaltung der türkischen Community während des Verfassungsreferendums in der Türkei, Merkels Flüchtlingsdeal, die jüngsten Verhaftungen Intellektueller in der Türkei - jedes Mal, wenn wieder eines dieser Themen in den Medien hochschwappt, erhält Ünlü Interviewanfragen. Er sei es leid, den Erdogan-Erklärer abzugeben, sagt er. Und macht sich dann doch wieder die Mühe, zu differenzieren. Denn Vereinfacher gibt es schon genug.

Die meisten Türken in Bayern seien redliche Steuerzahler und hätten ein entspanntes Verhältnis zur Religion - "aber in gewissen Kreisen hört es sich oft so an, als ob wir Türken alle Erdogan-Fahnen schwingen würden und Koranbücher auf zwei Beinen wären." Diese Pauschalisierung ärgert ihn.

Er setzt Fakten dagegen, zum Beispiel die Abstimmung über Erdogans Referendum vor zwei Jahren. Die Mehrheit der Türken hierzulande habe für ihn gestimmt, hieß es, was sei da los? "Aber es war nicht mal die Hälfte der türkisch-stämmigen Bayern abstimmungsberechtigt. Und von diesen gingen weniger als die Hälfte zur Wahl. De facto haben also nur etwa 15 Prozent der hier lebenden Türkischstämmigen für Erdogan gestimmt", sagt Ünlü.

"Eine Angst vor Tuchfühlung auf beiden Seiten"

Und dann das ewige Thema Islam. "Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland", sagt Ünlü. Aber indem man eine ganze Bevölkerungsgruppe pauschal diesem Stereotyp zuordne - dubiose Moscheenfinanzierung, Kinderehen, unterdrückte Frauen -, vertiefe man nur die Gräben. "Das ist genauso, als würden Ausländer alle Deutschen als AfD-Sympathisanten bezeichnen."

Man müsste mehr miteinander statt übereinander reden, sagt Ünlü. "Aber da gibt es eine Angst vor Tuchfühlung auf beiden Seiten." Ünlü selbst eckt mit seiner offenen Kritik an Erdogan, dem er "neo-osmanische Großmannsfantasien" attestiert, immer wieder bei den Konservativen an. Das Gespräch mit ihnen sucht er trotzdem.

Auch mit Ditib, der türkisch-islamischen Union, müsse man sprechen, sagt er. Sie sei der verlängerte Arm der türkischen Religionsbehörde, die Imame nach Deutschland schicke und die Texte für die Freitagsgebete in den Moscheen vorgebe. "Wenn man sich mit Ditib einigen könnte, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden, wäre enorm viel erreicht. Dann hätte man Imame, die auf dem Boden der Demokratie stehen. Vorbild könnte die jüdische Gemeinde sein, die schon seit über 100 Jahren hierzulande Rabbiner ausbildet", sagt er. Ohne den Dialog überlasse man das Feld Erdogan und seinen Stellvertretern. Doch kein bayerischer Politiker wolle sich auf einem Foto mit einem Ditib-Vertreter zeigen.

Die Diskussionen um den richtigen Weg führt Ünlü auch in der Familie. Sein ganz privater "Sparringspartner" sei sein Schwiegervater, sagt der Unternehmer. Der halte Erdogan die Treue. Andererseits habe er seine Töchter in Deutschland liberal erzogen, die eine ist Zahnärztin, Ünlüs Frau ist Marketingmanagerin. "Und der Schwiegervater wollte auf keinen Fall, dass sie in der Schule oder in der Freizeit nur mit Türken abhängen."

Ünlü selbst kommt aus einem säkularen Elternhaus, "Religion spielte bei uns keine große Rolle." Seine Eltern, beide Ärzte, haben sich an der Universität in Ankara kennengelernt, gingen gemeinsam nach Deutschland. Ünlü ist in Niedersachsen aufgewachsen, hat in London und Madrid studiert. Nach der Promotion erhielt er das Angebot einer Münchner Unternehmensberatung; so kam er vor 20 Jahren nach Bayern. Mittlerweile ist er selbständiger Medienunternehmer, verkauft Sport- und Filmrechte. Biene Maja und Wickie seien in der Türkei sehr gefragt, erzählt er. "Jedes Kind dort denkt, Biene Maja sei ein türkisches Wesen."

Seine Eltern gingen in die Türkei zurück, er blieb. Bei vielen Migranten in Deutschland vermisst er das Bekenntnis zur neuen Heimat. "Identifikation funktioniert noch eher auf lokaler Ebene: Ich bin Münchner. Es ist schon schwieriger zu sagen: Ich bin Bayer. Und fast ausgeschlossen: Ich bin Deutscher." Warum funktioniert das in den USA, aber nicht in Deutschland, fragt er sich.

Eine mögliche Antwort: "Auch wenn du schon in der dritten Generation in Deutschland lebst und den deutschen Pass hast, bist du hier in der Öffentlichkeit immer noch der Ausländer." Und in jüngster Zeit spürten gerade Muslime vermehrt Ablehnung. "Ich bin wahrlich kein Vertreter des Kopftuchs", sagt er, "aber dass Mädchen oder Frauen, die ein solches tragen, täglich Anfeindungen ausgesetzt sind, macht mich traurig."

"Die Ethnisierung der Gesellschaft nimmt zu"

Er versteht sich als Kosmopolit und würde einen guten Diplomaten abgeben im schwierigen deutsch-türkischen Verhältnis. Aber das politische Parkett hat ihn bis jetzt nicht gereizt. Er habe kein Parteibuch, sei Wechselwähler, sagt er. Und um in Bayern etwas zu bewirken, müsse man in die CSU - "doch auf deren Listen hat man mit einem ausländischen Namen keine Chance", sagt er und lächelt wieder süffisant.

Für die Staatsregierung ist er als Mitglied des Integrationsrats jedoch ein wichtiger Ansprechpartner, bestätigt Innenminister Joachim Herrmann (CSU). "Mit differenzierter und rationaler Stimme" trete er für die Anliegen der türkischstämmigen Bevölkerung in Bayern ein. Gerade "was die großen Chancen angeht, welche der Sport für die Integration bietet, ist mir Herr Dr. Ünlü ein wichtiger Ratgeber", sagt der Minister.

Der Sport sei wichtig, kontert Ünlü, aber das Wichtigste sei früher Spracherwerb. "Viele eher bildungsferne Familien merken erst bei der Einschulung: Hoppla, mein Sohn oder meine Tochter kann ja gar nicht richtig Deutsch." Statt Familiengeld nach dem Gießkannenprinzip wünscht er sich gezielte Förderung von Benachteiligten, also Alleinerziehenden, sozial Schwachen und Migranten. "Das wäre Integration."

"Das Thema wird eher noch wichtiger werden"

Wenn er mit seinem vierjährigen Sohn auf den Spielplatz im Schwabinger Luitpoldpark geht, "dann höre ich viele verschiedene Sprachen." Die Familie wohnt im Stadtteil Milbertshofen, dort fühlen sie sich wohl. "Gegenüber ist ein somalisches Kulturzentrum. Auf unserem Stockwerk wohnen Japaner, über uns Dänen, unter uns Russlanddeutsche. Und es ist ein entspanntes Miteinander."

Mit Oberbürgermeister Dieter Reiter ist er seit dessen Zeit als Wirtschaftsreferent per Du und im regelmäßigen Austausch. In München funktioniere die Integration gut, sagt er. Doch von der bayerischen Politik würden Türken immer noch als Fremdkörper wahrgenommen: "Es fehlt die Nestwärme. Das Zeichen: Ihr seid Teil von uns." Ein paar Ausnahmen gebe es: Günther Beckstein, der ehemalige Ministerpräsident, etwa, "er hatte keine Angst vor Tuchfühlung." Markus Söder hingegen habe einen klaren Fehlstart hingelegt mit der Entscheidung, das Ressort Integration vom Sozialministerium ins Innenministerium zu verlagern. "Damit wird das Thema auf Sicherheitsfragen reduziert", moniert Ünlü.

Jedes Jahr verleiht der bayerische Innenminister den Integrationspreis. Wann wird der Tag kommen, an dem es den Preis nicht mehr braucht? Ünlü zögert nicht: "Das Thema wird eher noch wichtiger werden. Denn die Ethnisierung der Gesellschaft nimmt zu." Deshalb wird er sich weiter engagieren, erklären und vermitteln.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2019
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