Süddeutsche Zeitung

Bildung:"Die Schule macht so viel kaputt"

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Bei der bayerischen Kinder- und Jugendkonferenz gibt es viele Beschwerden über das Bildungssystem im Freistaat - und Rufe, die Schüler mehr in den sozialen Medien abzuholen.

Von Viktoria Spinrad, Augsburg

Die Konferenz ist schon fast vorbei, da wird es plötzlich laut. "Wir sind kein Land, das stolz sein kann auf sein Schulsystem", ruft Sophie Kuttner, 17, von der Bühne herab. Die vierte Klasse sei einfach viel zu früh, um die Kinder zu unterteilen. "Jeder Schüler sagt das, und trotzdem wird nix verändert." Auch im Publikum gibt es Unmut. Die Forschung zeige seit Jahren, dass die Schule mit 8 Uhr zu früh beginne, moniert einer. "Die Schule macht so viel kaputt bei vielen", moniert eine andere. Dabei bräuchten die Schüler einen Safe Place, also einen sicheren Hafen. "Wo soll der denn sonst sein, wenn die Leute ihn nicht zuhause haben?"

Die Grundsatzkritik am bayerischen Schulsystem ist einer von mehreren emotionalen Momenten auf der Kinder- und Jugendkonferenz des Sozialministeriums Ende Mai. Fast 70 junge Menschen zwischen vier und 24 Jahren sind aus ganz Bayern in ein Augsburger Tagungshaus gekommen, um über Themen wie Hortgestaltung, Mitsprache in Heimen und den ÖPNV zu diskutieren. Viele der jungen Leute sind bereits aktiv in ihren Kitas, Schulen und in der Jugendarbeit - und sie haben einiges auf dem Herzen.

Zwei Stunden vor der kleinen Revolte sitzt Sophie Kuttner mit Mitstreitern in einem Raum im Obergeschoss des Tagungshauses und sondiert die Problemlage. "Wie viele haben Lust mitzureden, wenn sie es nicht von klein auf kennen, dass sie mitreden dürfen?", fragt Workshopleiter Stefan Schwarz. Die Runde ist sich einig: An den Gymnasien laufe es ja noch ganz gut mit der Mitsprache. An den anderen Schulformen sei es aber eher schwierig. Statt irgendwelcher Gedichtanalysen müsse man doch mal etwas von der "hochheiligen" Deutschstunde abziehen und die jungen Leute über die Möglichkeiten zur Teilhabe informieren, schlägt Kuttner vor. Sienna Fleming, 17, aus Augsburg klingt desillusioniert: "Dann sagen die: An der Wand hängt doch schon alles."

Im Flur hat sich derweil eine Runde um Luca Müller, 18, versammelt. Als Vorsitzender des bayerischen Landesheimrats ist er der Ombudsmann der in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen. Nur, dass viele von dieser Vertretung gar nichts wissen - und auch nicht, wie man Knackpunkte angehen kann. Etwa die Sache mit dem Taschengeld, von dem die Kinder und Jugendlichen Hygieneartikel und Kinobesuche zahlen müssen.

"Ich bin jetzt 16 und bekomme 47 Euro", moniert Andreia Pascaluta. Seit knapp zwei Jahren lebt sie in einer Wohngruppe im Nürnberger Land, seit einem halben Jahr engagiert sie sich ebenfalls in der Vertretung. Mit 17 bekäme man 53 Euro, dann mit 18 gebe es "einen Riesensprung" auf 158 Euro. "Das finden auch unsere Erzieher irgendwie dämlich", sagt sie. Die Frage ist nur: Wie ließe sich das ändern? Für einen Moment ist es still.

Unten im Erdgeschoss geht es laut zu. Vier Grundschüler aus München sitzen um ein Plakat herum und diskutieren wild durcheinander. Die Neunjährigen haben sich ein Thema vorgeknöpft, das man nicht gerade von Neunjährigen erwarten würde: Nachbarschaftsprobleme. "Was kann man gegen Ruhestörung tun?", fragt Liberty in die Runde und malt eine pinke Blume aufs Plakat. "Wir könnten die Polizei rufen", sagt einer. "Schilder an den Hauswänden aufhängen", ein anderer. "Wir gehen zu denen hin und sagen Blablabli", ein dritter. "Überwachungskameras aufstellen!!", schreibt Ludwig mit dem Filzstift.

Jede und jeder Sechste in Bayern ist unter 18. Doch die Mitsprache der Kinder und Jugendlichen gilt nicht erst seit Corona als ausbaufähig. Zwar gibt es institutionalisierte Lobbygruppen wie den Landesschülerrat und den Landesheimrat, doch kennen viele diese gar nicht. Eben deshalb hat im vergangenen Jahr im Freistaat die erste Kinder- und Jugendkonferenz stattgefunden. Zudem hat das Sozialministerium eine Website aufgebaut, über die man etwa Sprachnachrichten ans Ministerium schicken kann. Trotzdem kommt die Seite für viele auf der Konferenz aber eher stiefmütterlich daher. "Wir sind doch vor allem in den sozialen Medien", moniert eine Schülerin.

Zurück in Augsburg, die jungen Menschen stellen die Ergebnisse ihrer Workshops vor. Auf der Bühne steht Tobias Krell alias "Checker Tobi", Moderator einer Kinderwissenssendung, die viele Schüler und Lehrer beglückt. "Wie seid ihr denn auf das Thema Probleme in der Nachbarschaft gekommen?", fragt er die Gruppe um die kleine Liberty. Die erzählt, nervös wippend, wie die Nachbarn ihre Familie ständig nervten. Ihr Mitstreiter Ludwig bringt alle zum Lachen, als er sagt: "In unserem Gebäude wohnen lauter Menschen!" Ganz viele Menschen, schiebt er hinterher, "die auch ganz viel poltern und laute Musik hören."

Bedächtiger wird die Stimmung, als die Heimkinder auf die Bühne treten. Sie berichten von komplizierten Handynutzungsregeln und ihren Problemen mit dem Taschengeld. Eine im Publikum moniert, dass es für Hygieneprodukte anteilig nur fünf Euro im Monat gebe. "Wir können uns nur das Günstigste vom Günstigen leisten", sagt Andreia Pascaluta.

Dann geht es um Schule. Im Publikum redet sich eine junge Frau geradezu in Rage. Die frühe Ausdifferenzierung, dazu der Noten- und Leistungsdruck: Das bayerische Schulsystem überfordere die Schülerschaft. "Dadurch entstehen psychische Schwierigkeiten erst." Das Schulthema, stellt denn auch Checker Tobi fest, "ist ein großes, das euch beschäftigt."

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