Süddeutsche Zeitung

Arbeitskampf bei Amazon:"Schubladen voller Krankmeldungen"

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Die Vorwürfe wiegen schwer: Bei Amazon sollen Krankmeldungen nachlässig bearbeitet worden sein und Mitarbeiter ungerechtfertigt Abmahnungen erhalten haben. Die Mitarbeiter des Logistikzentrums in Graben bei Augsburg ziehen erstmals vor die Zentrale in München.

Von Stefan Mayr, Graben

Vor dem weißen Streikzelt brummt der Generator, im Inneren pusten etwa 50 Amazon-Mitarbeiter in neongelben Westen in ihre Trillerpfeifen. "Über 25 Prozent des Personals sind hier langzeitkrank", ruft Thomas Gürlebeck von der Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi, "und der Arbeitgeber tut nix gegen den Leistungsdruck und die Belastung am Arbeitsplatz." Applaus und Trillerpfeifen.

Es ist Streikversammlung auf dem Parkplatz des Amazon-Logistikzentrums in Graben bei Augsburg, seit Montag streiken die Mitarbeiter des Internet-Versandhändlers für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Am Mittwoch verlagern sie ihren Protest vom Gewerbegebiet in der schwäbischen Provinz in die Landeshauptstadt. Sie demonstrieren erstmals vor der Amazon-Zentrale in München-Freimann.

"Es wird Zeit, dass wir den Konflikt auch dorthin tragen, wo die Entscheider von Amazon in Deutschland sitzen", sagt Verdi-Handelsexperte Hubert Thiermeyer. "Das Versprechen Wir-liefern-am-nächsten-Tag erfüllen tagtäglich die Arbeiter", sagt Thomas Gürlebeck, "hierfür fordern wir angemessene Wertschätzung und Respekt." Die "grandiose Leistung" der 2000 Mitarbeiter in Graben und 9000 in Deutschland "gehört endlich honoriert durch einen Tarifvertrag", fordert der Gewerkschaftssekretär. "Wenn die Geschäftsführung das Weihnachtsgeschäft retten will, wird es Zeit, dass sie den berechtigten Forderungen der Beschäftigten nach existenzsichernden Tarifverträgen endlich nachkommen."

Respektloser Umgang mit der Belegschaft

In seiner Rede im Streikzelt wettert Gürlebeck über ein besonders "unverschämtes" Beispiel für den respektlosen Umgang des Unternehmens mit seiner Belegschaft. "Es ist eine Sauerei, dass in den Personal-Büros seit einem halben Jahr massenweise Krankmeldungen einfach in der Schublade verschwinden", ruft er den Mitarbeitern zu. Diese nicken, klatschen und pfeifen. Nur einer widerspricht: "Das geht schon viel länger als ein halbes Jahr." Wieder zustimmender Applaus.

Nach Gürlebecks Angaben mussten zahlreiche Mitarbeiter Lohnkürzungen und Abmahnungen in Kauf nehmen, weil sie nach Angaben des Unternehmens unentschuldigt nicht zur Arbeit gekommen seien. "Dabei haben sie alle ordnungsgemäß ihre Krankmeldungen abgegeben, aber diese wurden einfach nicht bearbeitet." Gürlebeck berichtet von "Schubladen voller Krankmeldungen", die monatelang nicht ins System eingepflegt worden seien. Die Folge dieser "Schlamperei": Beim Personal kommt weniger Lohn an, auf dem Firmenkonto bleibt mehr Geld. "Der Arbeitgeber weiß Bescheid, macht aber nichts dagegen", kritisiert Gürlebeck.

Es sind massive Vorwürfe, die man so zusammenfassen kann: Zunächst setzt Amazon seine Mitarbeiter dermaßen unter Druck, dass sie reihenweise krank werden. Und dann bestraft das Unternehmen die Erkrankten, indem es einerseits deren Krankmeldungen liegen lässt, aber andererseits fleißig Abmahnungen ausstellt. Ist das wirklich so? Und wenn ja, warum streiken dann nicht alle Mitarbeiter? "Viele kennen ihre Rechte nicht, weil sie die Sprache nicht beherrschen und das Gesundheitssystem nicht kennen", sagt Gürlebeck. Andere hätten schlichtweg Angst vor einem Rauswurf, deshalb wagten sie es nicht, die Arbeit niederzulegen.

Amazon gibt sich gelassen

Amazon-Sprecherin Anette Nachbar weist die Kritik der Gewerkschaft zurück: Dass 25 Prozent der Mitarbeiter langfristig krank sind, "trifft nicht zu", sagt sie. Wie hoch die Zahl stattdessen ist, teilt sie nicht mit. Zu dem Vorwurf der unbearbeiteten Krankmeldungen gibt sie "keinen Kommentar" ab. Stattdessen teilt sie mit, dass Amazon "ein fairer und verantwortungsvoller Arbeitgeber" sei: " In unserem Unternehmen spielt jeder Mitarbeiter eine entscheidende Rolle, wird mit Respekt behandelt, kann sich jederzeit äußern, und wird gehört." Auch den neuerlichen Streik kommentiert Amazon wie gewohnt demonstrativ gelassen. "Kunden werden den Streik nicht spüren", teilt die Sprecherin mit, die Ware werde pünktlich geliefert.

Seit 2013 versucht Verdi, Amazon zu Tarifverhandlungen zu bewegen. Die Gewerkschaft fordert eine Bezahlung nach dem Einzelhandels-Tarif. Amazon lehnt das ab und betont, man zahle Löhne, die sogar über dem Logistik-Tarif lägen. Auch über die Anzahl der Streikenden widersprechen sich Unternehmen und Gewerkschaft: Amazon spricht von bundesweit 1400 Teilnehmern pro Tag, Verdi von 2000.

Der Streik ist zunächst bis Mittwochabend angesetzt. Doch im Grabener Streikzelt wird bereits über eine Verlängerung bis Freitag gesprochen. Egal, wie lange er dauert, er wird wohl nicht der letzte Streik in diesem Jahr sein. Thomas Gürlebeck und seine Mitstreiter wissen, dass Streiks im Weihnachtsgeschäft am wirkungsvollsten sind. Gürlebeck gibt sich entschlossen: "Weihnachten steht vor der Tür. Wir auch."

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Quelle:
SZ vom 29.10.2014
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