Süddeutsche Zeitung

Rennräder im Test:Teure Seilschaft

Lesezeit: 3 min

Raus aus der Enge, auf in die Freiheit: Das Canyon Ultimate und die BMC Teammachine SLR01 bieten viel. Aber nur eines hat, was jetzt in Mode ist.

Von Sebastian Herrmann

Die Wände bewegen sich langsam aufeinander zu. Nach Monaten im Home-Office fühlt es sich an, als säße man in einer Falle. Aus dem Rechner reden die Kollegen über Teams-Zoom-Skype, und zwischen die Business-Videoschnipsel drängeln die Hausaufgaben der Kinder und spachteln die verbliebenen offenen Zeitfugen mit zäher Masse zu. Mittagessen machen, aufräumen, einkaufen, Inzidenzwerte checken, Abstand halten und ein bisschen verwirrt sein: Ist jetzt Ausgangssperre oder nicht?

Das Leben in der Pandemie weckt dringende Fluchtreflexe. Das Fahrrad, diese wunderbare Freiheitsmaschine, hilft dabei, die seelische Gesundheit ein wenig zu pflegen. Und das Privileg Home-Office bietet, auch das muss gesagt werden, doch Möglichkeiten, um Ausreißversuche aus dem Peloton der Kollegenschar zu unternehmen - auf einer schnelle Runde im Morgengrauen oder einer schnellen Runde ins Abendrot. Ein echter Ausreißversuch verlangt nach Tempo: Wie wäre es also, auf einem Rennrad aus dem Home-Office zu stürmen?

Das Canyon Ultimate und die BMC Teammachine SLR sind beide mittlerweile fast schon klassische Rennräder. Auf beiden Modellen wagen Profis Ausreißversuche aus dem echten Peloton und auf beiden Modellen wurden zahlreiche große Siege herausgefahren. Und doch unterscheiden sich beide Modelle in ihrer Positionierung auf dem Rennradmarkt. Der Direktversender Canyon aus Koblenz bietet meist viel Ausstattung für einen im Vergleich vernünftigen Preis; die Schweizer Marke BMC verkauft wiederum sehr großes Prestige für vergleichsweise sehr viel Geld.

Sowohl die Teammachine als auch das Ultimate verfügen über eine Lenker-Vorbau-Einheit aus Karbon. Das sieht schnell und schick aus, schränkt Bastler aber auch ein: Wer einen anderen Lenker fahren will oder dessen Position wesentlich anpassen möchte, steht vor größeren Herausforderungen als mit den klassischen Lenkern. Canyon setzt schon länger auf die Lenkervorbau-Einheit, BMC stattet seine Teammachine erst damit aus, seit sie die neue Version des Rades im aktuellen Modelljahr auf den Markt gebracht haben.

Die Schweizer haben dabei die Kabel der elektrischen Shimano Di2-Schaltung und die Leitungen der hydraulischen Scheibenbremsen vollkommen im Lenker verschwinden lassen. Nur kurz vor den Bremsscheiben und der Schaltung blitzt ein wenig Kabel oder Bremsleitung aus dem Rahmen hervor. Ansonsten sieht das Rad extrem aufgeräumt aus. Das Ultimate wirkt da hingegen etwas unordentlicher. Bremsleitungen und Schaltkabel sind auf der Unterseite des Lenkers unter einer Plastikabdeckung verborgen, allerdings nicht ganz sauber. Greift man mittig an der Oberlenkerposition an das dort nackte Karbon, lassen sich die Kanten der Abdeckung spüren, die die Kabel nicht komplett verbergen. Unterhalb des Lenkers führen dann gut sichtbar die Brems- und Schaltadern heraus und verschwinden nach einem großzügigen Bogen wieder im Rahmen beziehungsweise in der Gabel. Das ist nicht weiter schlimm. Aber da mittlerweile fast alle Hersteller Züge und Leitungen ihrer aktuellen Modelle komplett integrieren, haben sich die Sehgewohnheiten entsprechend angepasst: Es wirkt einfach ein wenig altmodisch.

Das gilt auch für die Rahmenform. Die Sitzstreben des Ultimate setzen klassisch fast genau unterhalb der Sattelstange an, wo sie eine Art kleines Dreieck bilden. BMC führt die Sitzstreben hingegen einige Zentimeter unterhalb des Sattelrohres an den übrigen Rahmen. Ein Konzept, auf das die meisten Hersteller mittlerweile setzen und das die ästhetischen Erwartungen ebenfalls entsprechend prägt.

Das BMC wirkt insgesamt wuchtiger. Die Karbonrohre des laut Hersteller gegenüber der Vorversion aerodynamischeren, leichteren und steiferen Rahmens haben einen größeren Umfang als die des Canyons, insbesondere das Unterrohr. Vielleicht prägt auch dieser optische Eindruck das Gefühl, dass die Teammachine ein klitzekleines Bisschen ruhiger läuft als das Ultimate, das ein winziges Bisschen wendiger wirkt. Das BMC hinterlässt das vielleicht miniminimal komplettere Fahrgefühl. Wie so oft bei Fahreindrücken handelt es sich dabei allerdings lediglich um Nuancen, die nur schwer objektivierbar sind. Beeindruckend ist das fast schmatzende Geräusch, das die Vittoria Corsa Graphene 2.0 Reifen hinterlassen, die auf dem Testrad montiert sind. Es klingt, als würden diese regelrecht auf dem Asphalt kleben.

Beide Räder schreien nach einem Ausreißversuch

Einen deutlichen Fahreindruck hinterlässt die Canyon S13 VCLS CF Sattelstange am Ultimate, die sehr gut flext und Erschütterungen fein wegfedert. Beim BMC birgt die Sattelklemmung hingegen ein kleines Geheimnis: Wer sie lösen will und die Schrauben schon gelockert hat, muss der Stange noch einen kräftigen Schlag in Richtung Hinterrad verpassen, sonst rührt sich nichts. Muss man wissen, andernfalls ist man aufgeschmissen.

Beide Räder also schreien danach, darauf einen Ausreißversuch zu unternehmen - egal ob aus dem Pandemiealltag oder aus dem Feld einer Verfolgergruppe während einer Gruppenausfahrt. BMC ruft dafür, wie bereits erwähnt, deutlich mehr Geld auf: Die Spanne der aktuellen SLR01-Reihe der Teammachine beginnt bei 4699 Euro und endet bei unfassbaren 15 499 Euro. Canyon verlangt für die günstigste Ultimate-Modellversion mit Scheibenbremsen 2199 Euro und setzt das Preisgipfelkreuz für die Top-Variante bei 8999 Euro. Im Vergleich beider Räder ist eins sicher: Für das gleiche Geld (3499 Euro) wird es sehr schwer, ein besser ausgestattetes Rennrad zu finden als die getestete Canyon-Variante Ultimate CF SL 8 Disc Di2. Jetzt aber raus, raus in die Freiheit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5277858
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.