Süddeutsche Zeitung

Straßenverkehr:Es bringt nichts, bei Rot Stoßstange an Stoßstange zu warten

Lesezeit: 2 min

Von Patrick Illinger

In den Augen mancher Physiker besteht die ganze Welt aus Teilchen. Das gilt sogar für alltägliche Dinge, Autos zum Beispiel. Wenn sich Fahrzeuge durch den Straßenverkehr drängeln, sehen Physiker Atome oder Moleküle in verschiedenen Aggregatzuständen. Fließender Verkehr ist eine Flüssigkeit, der Stau ein erstarrter Kristall. Für Atome wie Pkw gelten die Grundsätze von Thermodynamik und Festkörperphysik. Besonders spannend sind die Übergänge zwischen fest und flüssig, zum Beispiel an einer Ampel.

Unter diesem Betrachtungswinkel hat eine Forschergruppe der amerikanischen Hochschule Virginia Tech untersucht und im New Journal of Physics veröffentlicht, wie stehende Fahrzeuge sich in Bewegung setzen. Sie wollten wissen, welche Teilchendichte eine optimale Verflüssigung ermöglicht. Oder in Alltagssprache übersetzt: Geht es bei Grün flotter los, wenn man vor der roten Ampel Stoßstange an Stoßstange wartet? Oder mit größeren Abständen? Die kontraintuitive Antwort lautet: Enges Auffahren bringt nichts. Wenn Autos mit großen Abständen vor der Ampel stehen, kommt die Kolonne insgesamt genauso schnell in Bewegung - mit weniger Auffahrunfällen.

So wie ein Eiswürfel seine Zeit zum Schmelzen braucht, wenn er aus dem Gefrierfach kommt, dauert es an der Ampel, bis sich der Autokristall aus der Erstarrung löst. Physiker sprechen von Schmelzenthalpie. Um die Sache nicht nur theoretisch abzuhandeln, haben die Forscher mit Alltagsfahrzeugen auf einer Teststrecke experimentiert. Zehn Wagen wurden mit unterschiedlichen Abständen zwischen den Stoßstangen - von 38 Zentimeter bis 15 Meter - vor einer roten Ampel platziert. Was dann bei Grün passiert, hat eine Drohne vermessen. Der Versuch wurde mehrmals wiederholt und die Reihenfolge der Fahrer getauscht.

Das Ergebnis war eindeutig: Sind die Abstände eng, dauert es deutlich länger, bis sich die einzelnen Fahrzeuge in Bewegung setzen. Standen die Fahrzeuge im Minimalabstand, war das dritte Fahrzeug ganze sechs Sekunden nach der Grünschaltung noch immer nicht in Bewegung. Intuitiv ist das nachvollziehbar: Man will dem Vordermann schließlich nicht auf die Stoßstange brettern. Anders liegt die Sache, wenn man dank des Abstands zum Vordermann schon mal gemütlich aufs Gas tippen kann. Dann ist es etwas weiter bis zur Kreuzung, aber dort kommen gleich viele Fahrzeuge pro Grünphase durch.

Die Physik kollidiert mit der Psychologie

Das Ergebnis erinnert an die Erkenntnis von Stauforschern, wonach häufige Spurwechsel nichts bringen. In beiden Fällen kollidiert die Physik mit der Psychologie. Wenn der Verkehr auf der Nachbarspur schneller rollt, ist das ebenso unerträglich wie der Vordermann, der an der Ampel 15 Meter Platz zu seinem Vordermann lässt. Dabei würde es mit größeren Abständen an Ampeln (und im Stau) weniger Auffahrunfälle geben. Mit den Erkenntnissen aus der Physik kann man ja fortan wenigstens 42 statt 38 Zentimeter Platz lassen, auch wenn es schwerfällt.

Selbstverständlich ist auch den Physikern aus Virginia klar, dass weitere Faktoren das Teilchenmodell aushebeln können. Das Wetter spielt eine Rolle, und natürlich der Trottel im dritten Wagen, der genau dann eine SMS schreibt, wenn die Ampel grün wird.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2017
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