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Suche nach Infektionsquelle:Mutierte E.coli-Bakterien lösen Ehec-Infektionen aus

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Der gefährliche Darmkeim Ehec gibt weiter Rätsel auf, doch die Arbeit der Wissenschaftler bringt erste Ergebnisse: Nach Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation handelt es sich bei dem Keim um einen völlig neuen Stamm von E.coli-Bakterien. Experten aus Hamburg und China entzifferten die Erbsubstanz des Bakteriums.

Einen Monat nach Ausbruch der Darminfektion Ehec steigt die Zahl der Erkrankungen weiter an - und noch immer gibt es keinerlei Hinweise auf die Übertragungswege des gefährlichen Keims. Die Weltgesundheitsorganisation erklärte am Donnerstag, verantwortlich für die Erkrankungen sei ein ganz neuer, bisher unbekannter Stamm von E.coli-Bakterien. Die vorläufige genetische Untersuchungen hätten ergeben, dass der Stamm eine mutierte Form aus zwei Eschericha-coli-Bakterien (E. coli) ist.

Wissenschaftler aus Hamburg und China entzifferten die Erbsubstanz des in Deutschland grassierenden Ehec-Bakteriums. "Es handelt sich um einen besonderen Typ eines Ehec-Erregers", sagte Bakteriologe Holger Rohde vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) am Donnerstag.

In dem untersuchten Genom seien Teile des klassischen Erregers sowie von einem weiter entfernten Erreger gefunden worden. "Dieser Stamm ist nur ein ganz entfernter Verwandter der üblichen Ehec-Bakterien", ergänzte Rohde. Diese genetische Neukombination begünstige zum Beispiel das Anheften der Bakterien an die Darmzellen. Damit bleiben die Keime länger im Darm - und können dort auch länger Schaden anrichten. Der Keim weise zudem ein ganz besonderes Resistenzprofil auf.

Allem Anschein nach haben für die neue Kombination zwei Bakterienstämme Teile ihrer Erbsubstanz miteinander ausgetauscht - in einer Art primitivem Sex. In der Summe entstand ein Escherichia coli (E. coli)-Bakterium, welches das Hämolytisch-Urämische Syndrom (HUS) auslösen kann, erläutert Rohde. Etwa 80 Prozent - Rohde spricht vom "Mutterschiff" - stammten vom E. coli-Stamm O104. Die übrigen 20 Prozent wurden von einem anderen Bakterium übernommenen. In diesem Teil des Genoms sind Erbanlagen zur Produktion des gefährlichen Shigella-Toxins, das den Patienten jetzt Probleme bereitet.

Die Arbeit gelang gemeinsam mit Kollegen des chinesischen Beijing Genomic Institute. Die neuen Erkenntnisse über das Genom des Bakteriums helfen den betroffenen Patienten nach Erkenntnissen der Experten allerdings nicht unmittelbar, sondern müssen in den nächsten Wochen erst interpretiert werden. Dennoch ist den Medizinern ihr "Gegner" nun weit besser bekannt als zuvor.

Die anfängliche Vermutung, dass Salatgurken vom Hamburger Großmarkt für die Erkrankungen verantwortlich sind, bestätigte sich nicht. Der Stamm sei bei keiner der vier untersuchten Gurken nachgewiesen worden, sagte ein Sprecher des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). "Die Quelle der anhaltenden Infektionen ist noch nicht ermittelt", erklärte BfR-Präsident Andreas Hensel. "Es gilt weiterhin zu klären, an welcher Stelle in der Lebensmittelkette die Belastung mit Keimen erfolgt ist."

Keine Warnung mehr vor spanischen Gurken

Die EU-Kommission hob die europaweite Warnung vor spanischen Gurken bereits wieder auf. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) sagte in Berlin, leider sei die Botschaft weiterhin, dass "die genaue Ursache des Geschehens noch nicht eingegrenzt werden konnte". Bei Patientenbefragungen seien Tomaten, Gurken und Blattsalate, die in Norddeutschland verzehrt wurden, "auffällig in der Schnittmenge" gewesen. Zwar trugen alle vier verdächtigen Gurken in Hamburg Ehec-Erreger - aber eben nicht den Erregertyp O104, der für den derzeitigen Krankheitsausbruch verantwortlich sei.

Nach Hunderten Proben seien sich die Experten noch nicht einmal sicher, ob überhaupt ein Agrarprodukt für die Infektionen verantwortlich gemacht werden könne. Der Erreger könne auch bei Transport, Verladung und Verpackung auf die Ware gelangt sein.

Im Streit mit Spanien über die Folgen der Ehec-Krise verteidigte Bundeskanzlerin Merkel das Vorgehen der deutschen Behörden. Spanien erwägt rechtliche Schritte gegen die Hamburger Behörden, die vor Gemüse aus dem Land gewarnt hatten. In einem Telefongespräch mit Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero habe die Kanzlerin Verständnis für die wirtschaftliche Notlage des spanischen Gemüsesektors gezeigt, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Gleichzeitig habe Merkel aber auf die Verpflichtung der deutschen Behörden hingewiesen, die Bürger zu informieren und die Ergebnisse der Untersuchungen an das europäische Schnellwarnsystem zu übermitteln. Zapatero habe in dem Gespräch sein Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer ausgedrückt. Merkel und er seien sich einig, dass es jetzt vorrangig darum gehen müsse, die Infektionsquelle des EHEC-Erregers zu identifizieren, um weitere Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergreifen zu können. Beide vereinbarten laut Seibert, sich auf europäischer Ebene um Hilfen für die betroffenen Bauern zu bemühen.

Zuvor hatte Zapatero scharfe Kritik am Krisenmanagement der deutschen Behörden und der Europäischen Union geübt. Die deutschen Stellen hätten einen "eklatanten Fehler" begangen, als sie spanische Gurken mit der Ausbreitung der Ehec-Infektionen in Verbindung gebracht hätten. Die EU-Kommission habe "zu langsam" reagiert und sei nicht energisch genug gegen die Importverbote einzelner EU-Staaten für spanische Agrarprodukte vorgegangen.

"Die Regierung hat die Absicht, eine Wiedergutmachung für den gesamten entstandenen Schaden zu verlangen", sagte Zapatero dem staatlichen Rundfunk RNE. Spanien werde die Forderungen bei den zuständigen Gerichten geltend machen. Der Regierungschef ließ aber offen, ob Madrid seine angekündigten Schadenersatzklagen bei der deutschen oder der europäischen Justiz erheben wird.

Das Bundesverbraucherministerium hingegen verteidigte die Warnung vor spanischen Gurken. Die Hamburger Behörden hätten gemäß geltender Vorschriften gehandelt, sagte Ministeriumssprecher Holger Eichele in Berlin.

Die spanischen Bauern zeigen sich davon unbeeindruckt. Aus Protest gegen das deutsche Krisenmanagement schütteten 50 Landwirte etwa 300 Kilogramm Obst und Gemüse vor dem Konsulat der Bundesrepublik in Valencia aus. Wie der Bauernverband La Unió de Llauradors mitteilte, hatten die Gurken, Tomaten, Kartoffeln, Paprikas, Aprikosen und Pflaumen in Deutschland keine Abnehmer gefunden. Allein in der Region Valencia seien den Bauern Verluste von mehr als zwei Millionen Euro entstanden.

Trotz der Ungewissheit über die Herkunft des Ehec-Keims verhängte Russland ein Einfuhrverbot für Gemüse aus der gesamten Europäischen Union. Bislang galt dieses Einfuhrverbot nur für Gemüse aus Deutschland und Spanien. Die EU-Kommission kritisierte das russische Einfuhrverbot als "unverhältnismäßig." "Wir verlangen von Russland eine Erklärung", sagte ein Sprecher von EU-Gesundheitskommissar John Dalli am Donnerstag.

Der EU-Sprecher forderte Deutschland auf, alles daran zu setzen, um die Infektionsquelle für die Seuche rasch zu finden. "Die Behörden müssen mit Hochdruck danach suchen. Das wäre eine Erleichterung für ganz Europa und für alle Verbraucher", sagte er. Auch Belgiens Landwirtschaftsministerin Sabine Laruelle warnte andere Länder vor überzogenen Maßnahmen. "Es gibt überhaupt keinen Grund, alle Gemüse aus Europa unter Generalverdacht zu stellen", sagte sie der belgischen Nachrichtenagentur Belga.

Angst vor rohem Gemüse

Die Angst vor rohem Gemüse sorgt bei den deutschen Bauern unterdessen für Umsatz-Einbrüche in Millionenhöhe. "Unsere Gemüsebauern haben schon jetzt einen Schaden von 30 Millionen Euro", sagte Bauernpräsident Gerd Sonnleitner dem Fernsehsender N24. Wegen der Millioneneinbußen forderte er Entschädigungen für die betroffenen Bauern. "Den Gemüsebauern muss geholfen werden", sagte Sonnleitner der Passauer Neuen Presse. Er kritisierte zudem, dass sich die Experten bei der Suche nach dem Ehec-Keim zu einseitig auf Gemüse festgelegt hätten, anstatt auch an anderen Stellen danach zu suchen.

Eine Forsa-Umfrage ergab, dass jeder zweite Bundesbürger wegen EHEC seine Ernährung umgestellt hat und derzeit auf rohe Tomaten, Salatgurken und Blattsalate verzichtet.

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