Süddeutsche Zeitung

Sprachentwicklung:Wie das Babyhirn mit Schachtelsätzen fertig wird

Lesezeit: 3 min

Von Astrid Viciano

Stellen wir uns kurz einen Wettbewerb vor. Eine Art Olympiade mit einer exotischer Disziplin. Ziel ist es, ein Sprachungetüm zu erschaffen. Dazu werden Haupt- und Nebensätze auf extreme Weise ineinander verschachtelt, ohne grammatikalische Grundregeln zu verletzen: "Der Junge, der dort drüben steht, streichelt seinen Hund." Etwas für Anfänger? Nun gut: "Der Junge, der dort drüben, wo Vögel zwitschern, steht, streichelt seinen Hund." Da geht noch was: "Der Junge, der dort drüben, wo die Vögel, die gerade herangeflogen sind, zwitschern, steht, streichelt den Hund."

Erstaunlich, welche Ungetüme aus der deutschen Sprache entstehen können. Noch verblüffender ist, dass Menschen diese gewaltigen Verschachtelungen begreifen können. Wann dieser Lernprozess beginnt, hat nun ein Forscherteam vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der Universität Osnabrück untersucht. Bereits im Alter von fünf Monaten können Babys ähnlich komplexe Satzstrukturen erkennen, berichtet das Team im Fachblatt Science Advances. "Das hat uns selbst überrascht", sagt die Studienleitern Claudia Männel, die am MPI CBS und der Universität Leipzig tätig ist.

Doch wie sollen sich fünfmonatige Babys zu Schachtelsätzen äußern? Dafür nahmen die Wissenschaftlerinnen einen Umweg in Kauf. Um festzustellen, ob die Säuglinge diese eingebetteten Satzstrukturen erkennen, bauten sie Fehler ein. Reagierten die Babys auf die falschen Verschachtelungen, hatten sie folglich die Regeln der korrekten Einbettung begriffen.

Jedoch kamen noch weitere Probleme hinzu: Babys können nämlich den Inhalt komplexer Sätze noch nicht verstehen. Daher vereinfachten die Forscherinnen das Experiment. Statt verschachtelter Satzkonstruktionen verwendeten Männel und ihre Kolleginnen Tonfolgen, mal fünf, mal sieben Töne in einer Sequenz. Darin hatte der erste und fünfte Ton stets die gleiche Frequenz, der zweite und der vierte, der dritte stand für sich. Bei sieben Tönen erweiterten sie die Verschachtelung entsprechend.

Die Tonfolgen sollten also die eingebettete Satzstruktur aus Haupt- und Nebensätzen abbilden. Zunächst hörten die Babys einige korrekte Tonsequenzen, jede von ihnen währte etwa eine Sekunde. "Die Kinder mussten erst einmal lernen, was richtig ist", sagt Männel. Dann kamen fehlerhafte Varianten hinzu.

Passivkonstruktionen verstehen Kinder erst, wenn sie schon in der Vorschule sind

Je 38 Babys waren den Sequenzen mit fünf oder sieben Tönen ausgesetzt. Die kleinen Probanden trugen während des Experiments Mützen mit Elektroden. Damit konnten die Psychologinnen die Hirnaktivität der Kinder in Form eines Elektroenzephalogramms (EEG) ableiten.

Im EEG sahen die Forscherinnen nach Fehlern eine stärkere Reaktion im Gehirn als bei einer korrekten Tonfolge. "Wir sahen einen deutlichen Unterschied", sagt Männel. Die Babys waren also in der Lage, die falsche Einbettung zu entdecken. "Die Studie liefert damit den frühesten Beleg für diese grundlegende Fähigkeit beim Menschen", sagt die Psychologin Jutta Mueller von der Universität Osnabrück, die ebenfalls an den Versuchen beteiligt war.

Nach der Geburt lernen Kinder zunächst, die auf sie einströmenden Sätze gedanklich in Einzelteile zu zerschneiden und deren Anordnung zu analysieren. Erst dann können sie den Aufbau im Ganzen verstehen. "Wie entscheidend das ist, erleben viele von uns im Urlaub. Wenn wir uns zunächst schwertun, in der Fremdsprache einzelne Wörter auszumachen", sagt die Studienleiterin.

Mit vier bis fünf Monaten nehmen die Babys dann ihren eigenen Namen im Sprachgewirr ihres Alltags wahr - weil sie ihn so oft hören. Auch Begriffe wie "Mama" und "Papa" und einfache Satzkonstruktionen erkennen sie bald wieder. Mit sechs Monaten können Babys die Bedeutung einzelner Wörter begreifen, etwa Banane von Apfel unterscheiden. "Dennoch ist die Sprachentwicklung ein sehr langwieriger Prozess", sagt Mueller. Passive Satzkonstruktionen können erst Vorschulkinder begreifen: "Der Hund wird von dem Jungen gestreichelt."

Es ist diese langwierige Sprachentwicklung, die uns vom Tier unterscheidet. Zwar können auch andere Lebewesen miteinander kommunizieren. Hunde sind etwa fähig, einzelne Worte gedanklich mit Gegenständen zu verknüpfen. Doch können sie und andere Tiere keine Sätze bilden oder Wörter in einen sinnhaften Zusammenhang bringen. Ebenso wenig begreifen sie die Regeln einer Grammatik. "Doch ist die Forschung hier noch nicht am Ende", sagt Mueller. Demnächst möchten die Psychologinnen untersuchen, was Affen in den Tonfolgen erkennen können.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4222321
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.11.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.