Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Was verrät die Gehgeschwindigkeit über den Charakter?

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Von Sebastian Herrmann

In Trier gehen Passanten besonders gemächlich durch die Stadt. In Hannover hetzen die Menschen hingegen zackig durch Alltag und Straßen. Das hat eine Vergleichsstudie zur durchschnittlichen Gehgeschwindigkeit in deutschen Großstädten vor einigen Jahren einmal ergeben; und wer diese Ergebnisse liest, gelangt quasi automatisch zu dem Schluss, dass der Trierer an und für sich wohl zu den entspannten Zeitgenossen zählt, während die Hannoveraner dazu neigen, gestresst durch ihr Leben zu flippern.

Jenseits dieser Klischees haben sich Psychologen um Yannick Stephan von der französischen Universität Montpellier ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie die Persönlichkeit eines Menschen mit dessen Gehgeschwindigkeit in Zusammenhang steht.

Von wegen entspannte Flaneure!

Und wenn sich die Ergebnisse ihrer Studie im Fachblatt Social Psychological and Personality Science denn auf die Bewohner deutscher Großstädte übertragen ließen, was wahrscheinlich nicht ganz seriös ist, dann lautete die Antwort: Unter den langsamen Trierern finden sich etwas mehr Neurotiker als in Hannover, während in der niedersächsischen Hauptstadt mehr extrovertierte, gewissenhafte und offene Passanten über die Bürgersteige laufen; von wegen entspannte Flaneure!

Statt aber nur über die Persönlichkeit von Passanten zu spekulieren, werteten die Forscher um Stephan Daten von mehr als 15 000 Amerikanern aus, die an mehreren Langzeitstudien teilnahmen, darunter etwa eine, die seit 1957 Menschen aus Wisconsin begleitet. Teil dieser Untersuchungen sind Persönlichkeitstest, welche die sogenannten "Big Five" abfragen, so etwas wie die Hauptdimensionen menschlichen Charakters. Dazu zählen Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit sowie Neurotizismus.

Anhand der Persönlichkeitsmerkmale der Studienteilnehmer konnten die Wissenschaftler um Stephan nun zu einem gewissen Grad vorhersagen, wie sich die Gehgeschwindigkeit eines Probanden im Laufe der Jahre entwickeln würde. Die besonders neurotischen Teilnehmer liefen im Alter etwas langsamer als die emotional weniger labilen Probanden. Gewissenhaftigkeit, Offenheit für neue Erfahrungen und Extraversion korrelierten mit einer im Vergleich verhältnismäßig flotteren Gangart.

Der Effekt, so räumen die Wissenschaftler ein, fällt einigermaßen gering aus. Neurotiker schleichen also keinesfalls schneckengleich über Gehwege, während rasende Extrovertierte sie überholen. Dennoch zeigten die Ergebnisse, dass die individuelle Gehgeschwindigkeit durchaus als Ausdruck des Charakters eines Menschen verstanden werden könne. Dass die Gehgeschwindigkeit als Marker für die Gesundheit taugt, wissen Forscher bereits seit Langem.

Ein reduziertes Lauftempo geht unter anderem mit einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen und verminderten kognitiven Fähigkeiten einher. Das gilt, wie auch im Fall der aktuellen Studie, unabhängig von körperlichen Alterserscheinungen. Oder anders gesagt: Ein gebrechlicher Neurotiker schleicht im Alter noch langsamer über den Gehsteig als ein vergleichbar gebrechlicher Extrovertierter.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2017
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