Süddeutsche Zeitung

Archäologie:30 Jahre Ötzi - noch immer gibt die Gletscher-Mumie Rätsel auf

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Zum Jubiläum der Entdeckung Ötzis vor 30 Jahren gibt es großen Rummel an der Fundstelle am Tisenjoch sowie Häppchen in Reinhold Messners Sommerresidenz. Und forschen kann man immer noch an ihm.

Von Andreas Jäger

Als Nebel aufzieht und eiskalter Regen einsetzt, kommt auch noch Pech dazu. Der Hubschrauber, der die Gruppe von Zeitzeugen, Journalisten und Tourismusmanagern auf das Tisenjoch in 3200 Metern Höhe gebracht hat, kann die Fundstelle nun nicht mehr anfliegen, das Wetter ist zu stürmisch. Was Reinhold Messner nicht weiter aus der Ruhe bringt. Der Extrembergsteiger erzählt seine Geschichte vom "Halbnomaden", in dem er einen Geistesverwandten sieht.

Damals, vor 30 Jahren, steckte Ötzi, wie die Gletschermumie später getauft wurde, noch halb im Eis. Zwei Tage zuvor, am 19. September 1991 hatten ihn die Bergwanderer Erika und Helmut Simon in den Ötztaler Alpen entdeckt, auf 3200 Metern Höhe. Aufgrund des ungewöhnlich heißen Sommers 1991, der die Schneefelder hatte abtauen lassen, ragte der seltsam verdrehte Oberkörper aus dem Gletscher. Nur Tage später wäre Ötzi unter einer Schicht Neuschnee verborgen gewesen. So aber gelang ein Sensationsfund. Die 5300 Jahre alte Mumie gewährte nie dagewesene Einblicke ins Neolithikum. Der Termin am Tisenjoch zeigt aber auch: Wie kaum ein Forschungsobjekt steht Ötzi mittlerweile für eine ungewöhnliche Vermischung von Wissenschaft und Tourismus.

Ein Milliardär plant ein noch viel prächtigeres Museum für den Mann aus dem Eis

300 000 Besucher schauen sich Ötzi jährlich im Bozner Archäologiemuseum an. Mehrere nach dem Eismann benannte Sportevents wie der Ötzi-Trailrun locken Marathonläufer und Radfahrer ins Ötz- und Schnalstal. Und in die Popkultur hat es die Marke Ötzi auch schon geschafft. So bringt der Schlagerstar DJ Ötzi die Après-Ski-Bars zum Kochen, während Jürgen Vogel in einer Filmadaption in die Rolle des Gletschermannes schlüpfte.

Ötzis Bekanntheit kann dabei durchaus ihre Vorteile haben. Die Erderwärmung, die sich in den Alpen besonders schnell vollzieht, hat in ihm einen stummen Mahner. So zieht sich der Similaungletscher, der seinen Leichnam so lange konserviert hat, immer weiter zurück. Für Albert Zink, Leiter des Bozner Instituts für Mumienforschung, ist klar: "Die Fundstelle ist mittlerweile regelmäßig eisfrei. Früher oder später wäre Ötzi innerhalb der letzten Jahre wahrscheinlich gefunden worden." Walter Leitner, emeritierter Archäologie-Professor aus Innsbruck, findet: "Der Klimawandel kommt uns sozusagen entgegen." Denn wie auch Zink hofft Leitner auf neue Mumien aus dem Eis. Doch die Forscher haben ein Problem: Der "bestuntersuchte Körper der Welt" (Zink) gibt nicht mehr allzu viel Neues her, er gilt manchen Wissenschaftlern als ausgeforscht.

Dem Jubiläumsevent anlässlich des 30. Fundgeburtstags steht dies jedoch nicht im Wege. Wie es sich für einen 30. Geburtstag gehört, wurden alle noch mal eingeladen, obwohl man sich etwas aus den Augen verloren hat. So sind der pensionierte Gerichtsmediziner Othmar Gaber, der pensionierte Konservierungsbeauftragte Eduard Egarter Vigl sowie der Extrembergsteiger Reinhold Messner angereist, nebst genannten Zink und Leitner, auf Einladung des Ötztal-Tourismus.

Los geht es am ersten der beiden Tage im Ötzi-Dorf Umhausen, einem archäologischen Freizeitpark, der unter wissenschaftlicher Anleitung gebaut worden ist, bei dem allerdings auch der Ötzi-Schnaps und die Ötzi-Marmelade im Souvenir-Shop nicht fehlen darf. Gaber, Leitner und Egarter Vigl beobachten, wie ein Mitarbeiter der Überlebensschule, der sonst Kurse wie "Survival für Fortgeschrittene" betreut, mithilfe von Feuerstein, Katzengold und Zunderschwamm ein Feuer entzündet. Auf diese Weise in die Jungsteinzeit versetzt, erzählt Gaber von seiner ersten Begegnung mit Ötzi: "So etwas hatte ich noch nie gesehen: eine Mumie, die feucht war."

Nachdem sich Südtirol im Streit um das Vorrecht am Gletschermann gegenüber Österreich durchgesetzt hatte (die Fundstelle liegt knapp jenseits der Grenze in Italien), ging die Mumie 1997 von Innsbruck nach Bozen. Dort fragte man Egarter Vigl, ob er sich um die Konservierung Ötzis kümmern könne. Der ehemalige Chefarzt der Pathologie erzählt, wie er zunächst nicht sonderlich interessiert daran gewesen sei, weil er "zu viel zu tun" gehabt habe. Schließlich willigte er ein. Ötzi wurde fortan nicht mehr in mit Eiswürfeln gefüllte Plastiksäcke gepackt, sondern bei minus sechs Grad Celsius unter konstantem Besprühen mit Feuchtigkeit gelagert - so wie er auch heute im Bozner Archäologie-Museum ausgestellt ist. Noch zumindest: Der österreichische Immobilienmilliardär René Benko plant, ein neues, größeres Ötzi-Museum zu errichten. Der futuristische Bau soll auf dem Bozner Hausberg Virgl entstehen und per Seilbahn erreichbar sein.

Nach dem Gerangel um Ötzis Unterbringung ging es dann richtig los mit der Forschung. So stellte sich heraus, dass seine 61 Tätowierungen medizinische Bedeutung hatten. Die eingeritzten Punkte, Striche und Kreuze befanden sich dort an seinem Körper, wo er an Rheuma litt. Eine frühe Form der Akupunktur? Eine Sensation war der Befund, dass Ötzi von hinten mit einem Pfeil niedergestreckt worden war. Zehn Jahre war das entscheidende Indiz, die Pfeilspitze in Ötzis Schulterblatt, von Radiologen übersehen worden.

Am Tag zwei werden die Pressevertreter per gechartertem Helikopter zur Fundstelle gebracht, Reinhold Messner kommt von der anderen Seite aus dem Schnalstal angeflogen. Gemeinsam wird die Fundstelle begutachtet: Sie liegt unscheinbar zwischen schroffen Felsen und einem Schneefeld, dessen Oberfläche von Saharasand bräunlich gefärbt ist. Ein roter Fleck markiert den Fundort.

Ein Grund für die Unversehrtheit Ötzis ist die Lage der Felsmulde, die ihn vor Fließbewegungen des Gletschereises geschützt hat. Walter Leitner berichtet von den letzten Minuten des Eismannes. Es müsse sich bei dem Mord um eine "politische Intrige" gehandelt haben, da das Kupferbeil, der wertvollste Gegenstand in Ötzis Besitz, vom Mörder zurückgelassen worden ist. Die Axt wäre ein belastendes Beweisstück gewesen. Albert Zink hält diese These zwar für "sehr spekulativ", jedoch haben sich auch Profiler der Münchner Polizei den Fall näher angesehen und sind zum Schluss gekommen, dass Heimtücke als dominierendes Mordmerkmal vorgelegen hat.

Als sich die Wetterlage endlich bessert, holt der Helikopter die übrigen Gäste ab

Messner, der zusammen mit dem Bergsteigerkollegen Hans Kammerlander am 21. September 1991 die Fundstelle aufsuchte, war sich jedenfalls gleich sicher, dass es sich bei dem Toten nicht um einen kürzlich Verunglückten handeln kann, sondern dass die Leiche älter sein muss. Der Prähistoriker Konrad Spindler machte später die berühmte Abschätzung auf "mindestens 4000 Jahre".

Als es an der Fundstelle immer ungemütlicher wird und die Ansage kommt, dass der Hubschrauber das Joch nicht mehr anfliegen kann, steigt Messner als Erster den Berg hinab, der Tross folgt hinterher. Nach einiger Kraxelei taucht der Helikopter dann doch auf. Während der Hubschrauber halb in der Luft schwebt und halb mit einer Kufe auf einem Felsen balanciert, steigt Messner ohne zu zögern ein und verschwindet unter dem Lärm der Rotorblätter in den Wolken.

Nachdem sich die Wetterlage ein wenig bessert, können auch die restlichen Gäste hinabgeflogen werden. Die Messners haben zu einem Empfang in ihrer Sommerresidenz, Schloss Juval, geladen. Politiker und Carabinieri zeigen Präsenz, während Messner und Leitner ihre Geschichten noch einmal erzählen. Etwas abseits des Trubels stellt sich Albert Zink der Frage, welche neuen Erkenntnisse aus der Ötzi-Forschung zu erwarten sind. "Ötzi ist nicht zu Ende geforscht", sagt der Biologe, der neben seiner Tätigkeit als Mumienforscher Privatdozent an der Universität München ist, mit Schwerpunkt biomolekulare Anthropologie.

Die Ötzi-Forschung sucht nach neuen Themen

Die Forschung am Bozner Institut habe sich zwar mittlerweile hin zu anderen Mumien verschoben, so Zink. Ötzi sei aber immer noch ein Schwerpunkt. Aktuell beschäftigen sich zwei seiner fünf Doktoranden mit dem Mann vom Tisenjoch. Sie konzentrieren sich dabei auf die Erforschung seines Mikrobioms, insbesondere der Darmflora. Weil diese mit dem Immunsystem in Wechselwirkung steht, hat sie großen Einfluss auf unsere Gesundheit. Ein schrumpfendes Mikrobiom führe zu den vielen Unverträglichkeiten, mit denen sich der moderne Mensch herumschlägt. Ötzis Darmflora sei da deutlich umfangreicher im Vergleich, allerdings sind die DNA-Stränge seiner Darmbakterien häufig beschädigt. Daher arbeiten Bioinformatiker an deren Rekonstruktion.

Das Genom des Makroorganismus - Ötzis Erbgut - ist seit 2011 entschlüsselt. Es dient seither als Referenzpunkt für "sämtliche Populationsstudien der letzten zehn Jahre", so Zink. Konkret sind Veröffentlichungen über die menschlichen Populationen des Holozäns gemeint. Neben physischen Eigenschaften wie der Augenfarbe lassen sich aus dem Genom zudem Veranlagungen für Krankheiten herauslesen. Aktuell arbeiten Gerichtsmediziner daran, Ötzis Gesichtszüge aus seiner DNA zu rekonstruieren.

Auch wenn in der Ötzi-Forschung teilweise etwas bemüht nach Themen gesucht wird, kann das Genom des Gletschermannes in Zukunft dank neuartiger Untersuchungsmethoden vielleicht immer noch Erkenntnisse liefern. Nur bei der großen Frage, wer ihn denn nun umgebracht hat (manche wollen eine Frau involviert sehen und halten hartnäckig an der Eifersuchtsthese fest), wird es wohl nie eine endgültige Antwort geben.

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