Süddeutsche Zeitung

Wohnungslos in der Corona-Krise:"Die Ersatzfamilie bricht weg"

Lesezeit: 3 min

Die Anthropologin Luisa Schneider begleitet obdachlose Menschen in ihrem Alltag. In Corona-Zeiten beobachtet sie neben wachsender Not auch Positives. Doch was kommt nach der Krise?

Interview von Lina Verschwele

Die Anthropologin Luisa Schneider begleitet seit gut einem Jahr den Alltag von 27 wohnungslosen Menschen. Sie warnt, dass in der Krise wichtige Netzwerke verloren gehen.

SZ: Was hat die Krise für die Menschen geändert, deren Alltag Sie verfolgen?

Schneider: Einer von ihnen war früher Hausarzt und hat sehr viel gearbeitet. Dann verließ ihn seine Familie, er bekam einen Zusammenbruch. Seither lebt er auf der Straße. Für ihn ist die Corona-Krise besonders schlimm. Er konnte das Problem besser verstehen als die meisten und wusste, dass Wohnungslose viele Schutzmaßnahmen nicht einhalten können. Zugleich sickerten Informationen noch langsamer als sonst auf die Straße durch. Damit kam viel Angst auf.

Es geht also um viel mehr als das oft zitierte Händewaschen?

Ja, aber die Hygiene ist natürlich ein Problem - nicht nur wegen des Virus. Ich begleite auch eine Abiturientin, die nach einem Streit mit ihrem Freund und ihren Eltern obdachlos wurde. Vor der Krise konnte sie in Cafés oder Bibliotheken für ihr Abitur lernen und sich dort waschen. Jetzt geht beides nicht mehr. Plötzlich wird ihre Obdachlosigkeit sichtbar. Oft wissen Bekannte und sogar die Familie ja gar nichts davon. Ich kenne Rentnerinnen, die unter einem Balkon oder in einem Keller schlafen. Am Telefon erzählen sie ihren Enkeln aber von dem Strick- und Häkelkurs, den sie vermeintlich besuchen.

Was hat Sie seit Beginn Ihrer Recherche am meisten überrascht?

Ich hatte nicht erwartet, dass die Solidarität auf der Straße so stark ist. Natürlich gibt es viele unterschiedliche Gruppen. Aber das Grundprinzip ist: 'Alle haben Probleme. Du bist schon okay so - jetzt geht es darum, gemeinsam über die Runden zu kommen'. Das bedeutet zum Beispiel, das Essen zu teilen, aber auch dafür zu sorgen, dass Mädchen und Frauen auf der Straße nicht alleine schlafen müssen. Es entstehen Freundschaften und Ersatzfamilien. Diese Gemeinschaft hat eine starke Anziehungskraft, wenn man aus der Gesellschaft herausgefallen ist. Genau diese Solidarität ist aber in der Krise eigentlich verboten, weil sie mit physischem Kontakt einhergeht. Dadurch ist die Abhängigkeit von externer Hilfe gestiegen. Zu Beginn der Krise war es ein großes Problem, dass Tagesstätten erst einmal geschlossen wurden.

In vielen Städten gibt es Gabenzäune. Wie nehmen die Menschen das wahr?

Sehr positiv. Für sie war das ein Zeichen, dass die Gemeinschaft noch da ist. Sie haben die Zäune aber nicht nur als Hilfe für sich verstanden, sondern auch für ältere Menschen. Viele haben an den Zaun gebracht, was bei ihnen übrig war.

Also das Gegenteil von Hamstern?

Absolut. Während alle Klopapier horteten, wurde hier das zweite Päckchen Taschentücher gespendet. Jemand hat mal zu mir gesagt, wohnungslos zu werden, bedeute, sich und die Welt klein zu denken. Alles, was einmal Ziel war, verschwindet aus den Augen, weil es unerreichbar wird. Präsent bleibt die Frage: Was brauche ich im Hier und Jetzt? Damit einher geht die Annahme, dass andere das eben auch brauchen. Viele schauen sehr darauf, was andere benötigen. Ein Beispiel dafür: Ich bin Vegetarierin. Bei unseren Gesprächen in der Recherche war das immer wieder Thema. Irgendwann wurden dann für mich gefüllte Paprika zubereitet, als ich zum Feuer in den Park kam. Viele hören gut zu und versuchen, die Beziehung in beide Richtungen aufzubauen.

Das klingt fast ein wenig zu romantisch. Entstehen durch die Not nicht auch viele Konflikte, die sich durch die Krise verschärfen?

Seit der Corona-Krise haben die Notschlafstellen in Leipzig rund um die Uhr geöffnet und eine weitere Notunterkunft wurde eingerichtet. Einige können dort zum ersten Mal unterkommen. Vieles in ihrem Leben hat sich dadurch zum Positiven gewandelt.

Aber was passiert, wenn Hilfsangebote nach der Krise abgeschafft werden? Wer hat dann noch Zugang? Viele Wohnungslose schlafen normalerweise bei Freunden. Konnten sie in der Krise bleiben? Nein, jedenfalls nicht in den meisten Fällen, die ich kenne. Oft kamen die Wohnungslosen nur abends zu Besuch, um auf der Couch zu schlafen. Das ging dann nicht mehr.

Werden in Zukunft also mehr Menschen obdachlos, weil sie Kontakte verlieren?

Ja, wenn wir keinen Weg finden, das aufzufangen. Viele Netzwerke sind jetzt zusammengebrochen. Auch Wohnungslose, die sich früher gegenseitig unterstützt haben, verlieren sich jetzt aus den Augen. Außerdem gibt es Ängste, dass nach der Krise verstärkt Räumungsklagen kommen.

Wie sehen die Menschen, die Sie begleiten, ihre Zukunft?

Für die meisten ist das Corona-Virus ein Problem von vielen, zumal staatliche Hilfsstrukturen wieder aufgebaut sind. Viele fragen sich aber: Was bedeutet Corona für den sozialen Zusammenhalt? Wenn eine Rezession kommt - wendet sich die Gesellschaft vermehrt gegen arme Menschen?

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SZ vom 08.06.2020
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