Süddeutsche Zeitung

Meteorologie:Stochern im frostigen Nebel

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Von Andreas Frey

Eine düstere Prognose geht um in diesen klammen Oktobertagen. Einmal in der Welt, spricht sie sich schnell herum. Kalt soll er werden, der bevorstehende Winter. Bitterkalt. Einige Wetterpropheten sprechen von einem möglichen Jahrhundertwinter, der Deutschland bevorstehen soll. Ein Naturbeobachter aus Oberbayern warnt gar vor einem Jahrtausendwinter. Man horcht kurz auf, schüttelt sich und fragt: Haben die das nicht schon vergangenes Jahr vorausgesagt?

Ja, das haben sie. Kaum weht im Herbst der erste frische Wind, überbieten sich Wetterpropheten mit spektakulären Ansagen. Seit ein paar Jahren geht das schon so. Doch die vermeintlichen Experten gründen ihre Prognosen nicht etwa auf Berechnungen von Supercomputern oder statistische Analysen vergangener Kälteperioden. Basis der Prophezeiungen sind Beobachtungen an Getier und Gewächs. Dabei könnten Meteorologen durchaus bald imstande sein, im Spätherbst seriöse Vorhersagen über die erste Dezemberhälfte zu machen. Noch ist es aber nicht so weit.

Vom Flügelschlag eines Schmetterlings zum Tornado

Bisher lesen Wetterpropheten an Ameisenhaufen, abgedichteten Fluglöchern von Bienen, krumm gewachsenen Runkelrüben oder dem Blütenstand von Königskerzen ab, welches Wetter in ein paar Monaten herrschen wird. Wetterdienste reagieren auf solche Prognosen genervt. Nein, heißt es dort immer wieder, man könne weder an Ameisenhaufen noch an Bucheckern oder Eichhörnchen ablesen, wie der kommende Winter werden wird.

Eine Jahreszeiten-Prognose kann mit heutigen Methoden nicht klappen, weil die Atmosphäre ein chaotisches System ist, wie Forscher sagen. Der amerikanische Meteorologe Edward Lorenz fragte schon vor einem halben Jahrhundert, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings am Amazonas einen Tornado in Texas auslösen kann. Damit wollte Lorenz - anders als oft vermutet - nicht ausdrücken, dass ein kleines Insekt Wirbelstürme entfachen kann. Die Frage sollte zeigen, wie minimal veränderte Ausgangsbedingungen in der Atmosphäre das Wetter beeinflussen können. Da man bei Prognosen niemals alle Schwankungen berücksichtigen kann, ist die Aussagekraft von Vorhersagen begrenzt.

Menschen nehmen strenge Winter immer noch als potenziell existenzbedrohend wahr

Heute können Meteorologen das Wetter zehn Tage im Voraus seriös vorhersagen. Was darüber hinausgeht, ist in europäischen Breiten normalerweise ein Fall für die Glaskugel. Saisonale Prognosen, die Monate in die Zukunft reichen und von Supercomputern erstellt werden, gibt es zwar. Aber sie sind schwierig zu interpretieren - und selbst für Wissenschaftler keineswegs eindeutig.

Dennoch geht von Jahreszeiten-Prognosen eine große Faszination aus. Wer soziale Netzwerke nutzt, kann sich den Warnungen vor dem bevorstehenden Winter kaum entziehen. Der Ethnologe Werner Krauß vom Helmholtz-Zentrum in Geesthacht erklärt die Faszination für strenge Winter mit ihrer Rolle in Kunst und Literatur. Dort werden Schnee und Eis oft als etwas Episches dargestellt. Sei es in den Winterlandschaftsgemälden des Renaissance-Malers Pieter Bruegel, der im 16. Jahrhundert die kleine Eiszeit festhielt, oder im Katastrophenfilm "The Day After Tomorrow". Gut denkbar ist auch, dass Menschen einen kalten Winter noch immer als potenziell existenzbedrohend wahrnehmen - die Heizkörper könnten ja plötzlich ausfallen.

Vielleicht warnt deshalb niemand davor, dass der Winter sehr mild werden könnte. Dabei gebe es dazu durchaus Anlass. Der Winter 2006/07 brachte mit durchschnittlich 4,4 Grad über null Rekordwärme. Verglichen mit der Klimanormalperiode von 1961 bis 1990 waren die dunklen Monate vier Grad zu warm. Das passt zum Trend. Im aktuellen Jahrhundert hat sich die kalte Jahreszeit um fast ein Grad erwärmt.

Strenge Winter, das macht die Aussagen der Wetterpropheten noch ein Stück kühner, sind in den vergangenen Jahrzehnten generell unwahrscheinlicher geworden. Wegen des Klimawandels liegt der letzte wirklich kalte Winter fast zwanzig Jahre zurück: 1996 war er zwei Grad kälter als der langjährige Jahresdurchschnitt. Richtig streng war es letztmals von Dezember 1962 bis Februar 1963, als der Bodensee zufror. Mit einer Durchschnittstemperatur von minus 5,5 Grad erreichte er die Kategorie Jahrhundertwinter. Die Voraussetzungen dafür waren mächtige Hochdruckgebiete über Nordeuropa, die wie ein Bollwerk Warmluft monatelang von Mitteleuropa fernhielten.

Hochdruckgebiete liegen auch derzeit über Europa. Seit Tagen weht ein kalter Ostwind, die Temperaturen sind erstmals seit Monaten unterdurchschnittlich. Und an diesem Mittwoch soll ein kleines Höhentief sogar den ersten Schnee bis ins höhere Flachland bringen. Ob aus solch einer kalten Oktoberwoche ein kalter Winter wird? Der klassische Wetterbericht kann hier nicht weiterhelfen. Allerdings gehen Atmosphärenforscher mittlerweile neue Wege, um seriös weiter in die Zukunft schauen zu können.

Nur wer den Jetstream versteht, kann das Wetter in Europa vier Wochen im Voraus vorhersagen

In den Tropen sind sie damit bereits erfolgreich. Dort lassen sich allein durch die Beobachtung der Ozeane langfristige Prognosen erstellen, die oft zuverlässig sind. Da das Geschehen in den Tropen stark vom Pazifik geprägt wird, wissen die Forscher, welches Wettermuster sich einstellt, wenn einige Meeresregionen deutlich wärmer sind als normal. Besonders gut geht das in Jahren wie diesem, in dem Forscher das Klimaphänomen El Niño erwarten. Es stellt die Strömungsverhältnisse im Pazifik auf den Kopf und soll 2015 besonders stark ausfallen. Meteorologen wissen zwar nicht, ob es am 12. Dezember in Lima regnen wird, aber sie können einen Trend angeben: Regen wird während eines El Niños an der Westküste Südamerikas häufiger, während es in Südostasien, auf der anderen Seite des Pazifiks, trockener bleibt.

In unseren Breiten gelingen solche Prognosen seltener. Deutschland liegt genau zwischen den Tropen und dem Nordpol. Hier entscheidet die Position des Höhenwindes darüber, ob es warm oder kalt wird. Dieser sogenannte Jetstream entsteht in mehr als zehn Kilometern Höhe, am Rand der Troposphäre. Die Winde kreisen um die Nordhalbkugel. Aus dem Weltall sieht es so aus, als wäre die Arktis von einem gewaltigen Polarwirbel umgeben. Forscher wissen, dass schon kleine Verlagerungen des Höhenwindes große Wirkung auf die Temperatur in Europa haben können.

Um diese Veränderungen des Jetstreams zu verstehen, schauen die Meteorologen seit einigen Jahren in das nächsthöhere Stockwerk der Atmosphäre. Dort, in der Stratosphäre, wird es mit der Höhe nicht einfach kälter, wie man es aus den Bergen kennt. In der Stratosphäre schwanken die Temperaturen, mitunter springen sie plötzlich auf einige Grad über dem Gefrierpunkt. Das wirkt sich mit einiger Verzögerung auch auf den Polarwirbel aus. Er beginnt zu schlingern, teilt sich, und die Kaltluft vom Pol flutet die Kontinente auf der Nordhalbkugel. Die Folge sind oft sehr kalte Winterabschnitte, wie etwa im Februar und März des Jahres 2013.

Vorhersagen für vier Wochen scheinen möglich

Die Idee der Meteorologen lautet daher: Erkennt man solche Veränderungen in der Stratosphäre frühzeitig, sind in unseren Breiten Vorhersagen möglich, die einen Monat in die Zukunft reichen. Eine aktuelle Studie in den Environmental Research Letters bestätigt, dass solche Prognosen funktionieren können. Zwei Meteorologen am Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (EZMW) in Reading bei London haben dazu die Winter von 1980 bis 2012 nachträglich untersucht und konnten die Luftdruckverhältnisse auf der Nordhalbkugel mithilfe von Stratosphärendaten für bis zu vier Wochen korrekt vorhersagen. Besonders gut war die Prognose, wenn der Polarwirbel entweder sehr schwach oder sehr stark ausgebildet war. Das Potenzial solcher Methoden erscheint groß: "Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie die Bedingungen in der Stratosphäre unser Wetter beeinflussen", sagt Andrew Charlton-Perez, Mitautor der Studie.

Der Klimaforscher und Meteorologe Mojib Latif von der Universität Kiel ist überzeugt, dass solche Vorhersagen künftig immer besser werden. Allerdings müsse die Stratosphäre noch mehr erforscht werden. Noch sei unklar, welche Prozesse dort genau ablaufen. "Insgesamt weiß man wenig darüber, unter welchen Bedingungen auf Zeitskalen von bis zu einigen Wochen mit einer guten Vorhersage zu rechnen ist", sagt Latif. Aber immerhin, es scheint möglich zu sein. Ganz ohne Runkelrüben.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2015
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