Süddeutsche Zeitung

Menschheitsgeschichte:Gattung Homo viel älter als gedacht

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Von Hubert Filser

Würde man die Sache heiter angehen, könnte man sagen: Es ist die Stunde der Unterkiefer. Denn zwei der bogenförmigen, versteinerten Knochen erweitern und vertiefen das Wissen um die menschlichen Ursprünge auf spektakuläre Weise. Der erste deutet auf einen neuen Rekordhalter im Stammbaum, Forscher datieren sein Alter auf 2,8 Millionen Jahre. Das ist ganze 400 000 Jahre älter als alle bisherigen Funde der Gattung Homo ( Science, online). Anthropologen fanden LD 350-1, so der wissenschaftliche Name, in zwei größere Stücke zerbrochen in der Afar-Senke in Äthiopien, versteckt im staubigen Boden der Region Ledi-Geraru.

Der zweite Unterkiefer ist einem anderen Ast des weit verzweigten Stammbaums zuzurechnen, er gehört zu einem bereits 1960 gefundenen menschlichen Fossil aus der Olduvai-Schlucht im Norden von Tansania. Anthropologen nennen es kurz OH7 (für Olduvai Hominid Nr. 7) und rechnen es zur Gattung Homo habilis. Das Problem mit diesem Unterkiefer war aber, dass er sich im Lauf der 1,8 Millionen Jahre seit dem Tod seines Besitzers verformt hatte. Da sich die Unterschiede zwischen Frühmenschen oft gerade an Kiefer und Zähnen zeigen, erschwerte das die Analyse.

Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig haben nun die Bruchstücke im Computertomografen mit hoher Auflösung abgebildet und setzen die Einzelteile im Computer neu zusammen. Die digitale Rekonstruktion belegt, dass sich der Homo habilis, der "geschickte Mensch", von allen anderen frühen menschlichen Arten deutlich unterschied und seine evolutionären Wurzeln wohl noch weiter zurückreichen als bisher gedacht ( Nature, Bd. 519, S. 83, 2015). Die beiden neuen Studien ergänzen einander also prächtig.

Das Team aus der Science-Veröffentlichung um Brian Villmoare von der University of Nevada in Las Vegas hatte gezielt in der Afar-Senke in Nordostafrika gesucht. Es ist eines der wichtigsten Gebiete der Menschheitsgeschichte. Einige der berühmtesten Fossilien stammen von hier, die aufrecht gehende "Lucy" etwa, 3,2 Millionen Jahre alt. Sie gehörte nicht zur Gattung Mensch, sondern zu den Vormenschen der Gattung Australopithecus. Sie war klein und hatte ein kleines Gehirn.

Der neue Unterkiefer zeigt noch ein paar Merkmale der Australopithecinen und schon einige der Gattung Mensch. Die dünneren und vorne symmetrisch stehenden Backenzähne sowie der gleichmäßige Kieferknochen gehören zu einem Frühmenschen. Die eher primitive, geneigte Kinnform erinnert aber noch stark an die eher affenartigen Australopithecus-Vormenschen. Der Fund ist umso wertvoller, weil gerade aus dieser wichtigen Übergangsphase wenige Fossilien vorliegen. "Der Ledi-Geraru-Kiefer liefert uns ein plausibles evolutionäres Bindeglied zwischen Australopithecus afarensis und Homo habilis", sagt der Anthropologe Fred Spoor, der am University College London und am EVA in Leipzig forscht.

Lebenswelten wie in der Serengeti oder der Kalahari

Ein weiteres Forscherteam rekonstruierte aufgrund der Sedimente in der Afar-Senke auch die damalige Lebenswelt. Weite Teile der Landschaft waren trocken, es dominierte eine offene Gras- und Savannenlandschaft mit einzelnen Galeriewäldern entlang von Flussläufen und an Seeufern. Es regnete wohl sehr wenig, was für die Vor- und Frühmenschen eine große Herausforderung darstellte. Die Gegend lasse sich mit modernen afrikanischen Landschaften wie der Serengeti oder der Kalahari vergleichen, schreibt die Geologin Erin di Maggio in Science. Damals lebten Tiere wie die mittlerweile ausgestorbenen Hauerelefanten, tonnenschwere, bis zu vier Meter hohe Säugetiere, die vor allem das Laub der Galeriewälder als Nahrung nutzten. Zudem fanden sich Spuren von ausgestorbenen Wasserbüffelarten, Flusspferden, Krokodilen und verschiedenen Fischen.

Die Zeit vor drei Millionen Jahren machte den Vor- und Frühmenschen das Leben schwer. Das Klima änderte sich aufgrund der großräumigen Plattenbewegungen des Kontinents, vor allem in Ostafrika wurde es zunehmend trockener. Auch die vielen Vulkane der Region waren aktiv, was man an den zahlreichen Ablagerungen in den Böden gut erkennen kann. Vielleicht führte genau dieser Druck der Umwelt dazu, dass sich aus den Vormenschen der Gattung Australopithecus die Frühmenschen der Gattung Homo entwickelten.

Paläoanthropologen wie Forscher Friedemann Schrenk von der Frankfurter Senckenberg-Gesellschaft halten die Entwicklung der Gattung Mensch aus den Australopithecinen für erwiesen. Mit dem neuen Fund werde das Bild klarer. "Die Populationen damals waren relativ klein und isoliert", sagt Schrenk. "Eine hohe Variabilität ist da die logische Folge." Ob man für jeden Fund eigene Arten oder Unterarten definiere, sei unwichtig. Für ihn ist klar: "Es gab eine ganze Reihe geografischer Varianten des frühesten Homo." Schrenk spricht deshalb auch gern vom Stammbusch der Menschheitsgeschichte, einem weit verzweigten Gebilde, und nicht vom Stammbaum mit einer großen Hauptachse der menschlichen Entwicklung.

Auch der zweite Unterkiefer verweist auf eine große Variabilität zu Beginn der Gattung Homo. Das Olduvai-Fossil ist mit 1,8 Millionen Jahren deutlich jünger als der Fund aus Afar. Die Leipziger Forscher um Fred Spoor vergleichen den rekonstruierten Knochen eines Homo habilis und auch die mögliche Kopfform mit anderen bekannten Funden der damaligen Zeit. Es zeigt sich, dass bei allen drei damals parallel zueinander existierenden menschlichen Arten Homo habilis, Homo erectus und Homo rudolfensis sehr große Unterschiede in der Gestalt des Kiefers existierten. "Die Unterschiede sind manchmal so groß wie die zwischen Schimpansen und heutigen Menschen", sagt Co-Autor Philipp Gunz. Bislang dachten die Forscher eher, dass sich die Arten anhand ihres Gehirnvolumens unterschieden. Dies sei aber gar nicht der Fall. Offenbar weichen die Gesichtszüge stark voneinander ab.

Bei allen Unterschieden zu Beginn der menschlichen Geschichte vor 2,8 bis drei Millionen Jahren gibt es bei den drei verschiedenen Arten eine entscheidende Gemeinsamkeit. "Die frühen Menschen nutzten alle zunehmend Steinwerkzeuge, um den Umweltdruck abzufedern", sagt Friedemann Schrenk. Die Fundstätten der ältesten Steinwerkzeuge der Menschheit liegen ebenfalls am Rand der Afar-Senke. Sie brachten den Bewohnern dort und in anderen Regionen einen gemeinsamen großen Selektionsvorteil. Der neu gefundene Unterkiefer zeigt auch, dass die Hominiden diese Chance genutzt haben. Es war der Beginn der Menschwerdung.

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SZ vom 05.03.2015
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