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Medizin-Nobelpreis:Wenn dem Organismus die Kraft ausgeht

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Die diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger haben dazu beigetragen, ein uraltes Rätsel der Menschheit zu lösen: Warum altern wir?

W. Bartens und K. Blawat

Das gleichförmige Leben auf Tasmanien ist wahrscheinlich bestens dafür geeignet, sich mit Hingabe seinen Interessen zu widmen. Elizabeth Blackburn, die 1948 auf der Insel südlich von Australien geboren wurde, war schon früh von allem Lebendigen fasziniert. Als Kind beobachtete sie Tiere und Pflanzen. Manchmal sang sie den Tieren sogar etwas vor und schloss in ihre Darbietungen auch Feuerquallen und andere Weichtiere mit ein. Nur folgerichtig, dass Blackburn später Biologie studierte, zunächst in Melbourne, dann an der britischen Elite-Universität Cambridge.

Die Zuneigung der Naturwissenschaftlerin zu vermeintlich niederen Kreaturen ist nun, ein halbes Jahrhundert nach ihren Streifzügen auf Tasmanien, mit der höchsten Ehre belohnt worden, die an Wissenschaftler zu vergeben ist. Blackburn, die seit 2003 auch amerikanische Staatsbürgerin ist, erhält in diesem Jahr zusammen mit den US-Forschern Carol Greider und Jack Szostak zu gleichen Teilen den Medizin-Nobelpreis.

In ihrer Forschung, die sie an die Yale-Universität und ins kalifornische Berkeley führten, behielt Blackburn ihre Vorliebe für Kleinstlebenwesen bei. So wie bei höheren Organismen schwimmen deren Gene auf dem Erbmolekül DNS nicht frei in den Körperzellen herum. Sie sind vielmehr auf engem Raum verknäult in Chromosomen verpackt. An einzelligen Wimpertierchen der Gattung Tetrahymena entdeckte Blackburn mit ihrer Doktorandin Carol Greider, woraus die Enden der Chromosomen bestehen - den sogenannten Telomeren.

Blackburn, Greider und Szostak haben in den 1980er Jahren ein Rätsel gelöst, das Molekularbiologen seit Jahrzehnten beschäftigt hatte: Warum können sich Zellen immer wieder teilen und so Wachstum ermöglichen? Vor mehr als 50 Jahren entdeckten Zellforscher den Mechanismus der Zellteilung und waren fasziniert von dem fein abgestimmten Zusammenspiel der Moleküle. Nur ein Detail irritierte die Wissenschaftler: Eigentlich müsste mit jeder Teilung ein Stück Erbgut verschwinden. Von den vielen Proteinen, die an der Zellteilung mitarbeiten, vervielfältigt keines die hinteren Bausteine der DNS auf einem Chromosom. Gingen diese verloren, würde die Zelle aber schnell sterben, weil ihr lebenswichtige Erbinformationen fehlen.

Der Einzeller Tetrahymena, der ähnlich wie ein Pantoffeltierchen aussieht, half mit, das vermeintliche Paradox aufzuklären. Blackburn untersuchte an den Enden der Chromosomen die Basen, also jene Bausteine, aus denen sich die DNS zusammensetzt. An den Chromosomenenden des Einzellers fand sie eine einzigartige Abfolge der Basen. Merkwürdig war nur, dass die DNS an den Enden quasi zu stottern schien. Im immer gleichen Muster wiederholten sich dort zwei der vier Basen. Erbinformationen wie auf dem Rest des Chromosoms, beispielsweise über die Größe oder den Stoffwechsel des Einzellers, waren auf diesen DNS-Abschnitten nicht gespeichert.

Blackburn erkannte, dass die Wiederholungen in der DNS nicht einer Laune der Natur entsprungen waren, sondern die Zelle vor dem schnellen Tod schützten. Schon 40 Jahre zuvor hatten die Nobelpreisträger Barbara McClintock und Hermann Muller vermutet, dass die Enden der Chromosomen den Rest der DNS schützten. Wie die Zellkappen den Chromosomentod herauszögerten, wollte Blackburn an ihren Einzellern weiter erforschen. Dies gelang allerdings nur mit Hilfe anderer Forscher.

Wissenschaftliche Konferenzen ähneln manchmal einem Pokerspiel: Wie viel von der eigenen Arbeit kann man preisgeben, ohne dem Kollegen - und Konkurrenten - Ergebnisse zu verraten, die er später womöglich als seine eigenen ausgibt? Andererseits können Ratschläge anderer Forscher helfen, die entscheidende Idee für ein Experiment zu bekommen. Vielleicht hätte Blackburn nie den Nobelpreis bekommen, hätte sie nicht 1980 auf einer Konferenz von ihrer stotternden DNS erzählt. Im Publikum saß auch der Genetiker Jack Szostak, der nach einer Reihe deprimierender Experimente zu den Vorträgen gereist war.

Szostak wurde in London geboren, wuchs aber in Kanada auf. Auch er besitzt mittlerweile die US-Staatsbürgerschaft - der 56-jährige Genetiker lehrt seit 1979 in Harvard. Er hatte sich schon früh gefragt, wie das Leben auf der Erde begonnen hat und warum sich aus ein paar umherschwimmenden Chemikalien die ersten Organismen formen konnten. Szostak hatte außerdem in seinem Labor kurz zuvor künstlich DNS hergestellt und in Hefezellen - einem von Molekularbiologen oft verwendeten Modellorganismus - geschleust. Dann kam jedes Mal die Enttäuschung: Die zusammengebastelten Chromosomen waren schon nach wenigen Zellteilungen nur noch bruchstückhaft vorhanden, die Zellen starben.

Lesen Sie weiter, was die Telomere für den Alterungsprozess bedeuten.

Blackburn und Szostak kamen auf eine Idee, die nach damaligen Maßstäben geradezu verwegen erschien. Wenn die sich wiederholenden Bausteine die Chromosomen eines Einzellers schützen können - warum nicht auch die eines Hefepilzes? Beide Organismen sind zwar nicht miteinander verwandt, aber trotzdem war das Gemeinschaftsexperiment ein Erfolg. Ausgestattet mit Blackburns DNS-Gestotter überlebten auf einmal auch Szostaks Hefezellen. Die einzigartige DNS-Sequenz der Telomere ist nahezu universell, es gibt sie identisch in Pantoffeltierchen, Pilzen und Primaten.

Telomere - der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff bedeutet so viel wie "End-Teil" - bestimmen aber nicht nur mit, wie alt ein Mensch wird und wie schnell Zellen altern. Verkürzen sich die Telomere, altern die Zellen früher. Auch für die Krebsentstehung haben die Chromosomenenden eine entscheidende Bedeutung. Krebszellen können sich schließlich unbegrenzt teilen. Welche Rolle spielen die Telomere dabei?

Die dritte Preisträgerin, die 48-jährige Carol Greider, hat entscheidend zur Aufklärung dieses Rätsels beigetragen. Nach ihrem Biologie-Studium promovierte sie bei Elizabeth Blackburn. Diese bewies nicht nur in ihren Experimenten großes Geschick, sondern auch in der Auswahl ihrer Mitarbeiter - für die Karriere eines Wissenschaftlers kann das sehr wichtig sein. Blackburn berichtete ihrer ehemaligen Doktorandin Greider von ihrer vagen Idee, dass die Telomere von einem bislang unbekannten Enzym gebildet werden. Greider wusste um das Risiko, dass das aufwendige Experiment scheitern konnte, trotzdem stimmte sie spontan zu, als Blackburn ihr die Zusammenarbeit vorschlug.

Greider und Blackburn machten sich an die Arbeit, zerhäckselten Einzeller, mischten sie mit DNS-Bausteinen - und am Weihnachtstag des Jahres 1984 hielten sie begeistert ein Blatt Papier in den Händen, auf dem Laien wohl nur ein paar Streifen sehen würden. Die beiden Forscherinnen sahen etwas anderes: Den Beweis, dass Telomere von einem Enzym gebildet werden, das sowohl aus einem Eiweiß als auch aus einer speziellen Variante der Erbinformation besteht. Sie nannten das Molekül Telomerase.

In Krebszellen ist dieses Enzym ungewöhnlich aktiv. Die Tumorzellen teilen sich ungehemmt, ohne dass ihre Chromosomen schrumpfen und die Zellen zugrunde gehen. Im Gegenteil, sie sind unsterblich. Auch Krankheiten des Knochenmmarks, des Immunsystems, der Lunge und der Haut hängen mit der Länge der Telomere und der Aktivität des Enzyms zusammen. Genug zu forschen gibt es für die Preisträger auch weiterhin.

Auch wenn nur Fachleute ihre Forschung nachvollziehen können, haben Blackburn, Greider und Szostak dazu beigetragen, ein uraltes Rätsel der Menschheit zu lösen: Warum altern wir? Das Enzym Telomerase ist zwar in allen Zellen vorhanden, in den meisten jedoch nicht aktiv. Deshalb schrumpfen die Chromosomen trotz der schützenden Telomerkappen langsam. Erst stirbt die Zelle. Mit der Zeit geht dem Organismus die Kraft aus, sich zu erneuern.

Wie wichtig die Entdeckung der Telomere war, zeigte sich schon im Jahr 2007, als Blackburn vom Time-Magazin zu einer der "100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt" gekürt wurde. 2006 war sie mit dem Albert-Lasker-Preis ausgezeichnet worden. Diese Ehrung gilt als Vorauswahl für den Nobelpreis - mehr als die Hälfte der Preisträger wurde später mit dem "richtigen" Nobelpreis geehrt.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2009
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