Süddeutsche Zeitung

Klimawandel:Das arktische Meereis dünnt dauerhaft aus

Lesezeit: 3 min

Im Jahr 2007 hat das arktische Meereis abrupt an Volumen verloren - und sich seither nicht mehr davon erholt.

Von Benjamin von Brackel

In der Retrospektive erscheint manches in neuem Licht. Als Angela Merkel 2007 nach Grönland reiste und im roten Anorak von Schiff und Helikopter aus aufs schwindende Eis blickte, wurde sie als Klimakanzlerin gefeiert, schon einige Jahre später dagegen als selbige verhöhnt, angesichts ihrer mauen klimapolitischen Bilanz. Erst jetzt wiederum weiß man, dass sie zumindest zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.

Denn in jenem Jahr spielte sich in den arktischen Gewässern etwas ab, dass das Antlitz der Region grundlegend verändert hat, wahrscheinlich unumkehrbar: Aus dem dicken und deformierten Meereis wurde dünneres und gleichförmigeres Eis, schreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Hiroshi Sumata im Fachjournal Nature. Um über die Hälfte habe der Anteil des Meereises in jenem Jahr abgenommen, das mehr als vier Meter dick ist. Sie sprechen von einem Regimewechsel. "Die Veränderungen sind sehr abrupt geschehen", sagt der Geophysiker Sebastian Gerland vom Norwegischen Polarinstitut in Tromsø, einer der Autoren der Studie.

Als beeindruckend bezeichnet Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) die Ergebnisse der Studie, an der er selbst nicht beteiligt war. Bisher sei die Ausdehnung das Maß der Veränderungen des arktischen Meereises gewesen, nicht das Eisvolumen, schließlich lässt sich ersteres viel einfacher mithilfe von Satelliten ermitteln. "Wir haben bisher flach auf das Problem geschaut", sagt der Physiker. "Mit dem dreidimensionalen Blick sehen wir nun einen viel dramatischeren Eisrückgang als bisher gedacht."

Aus dem durch die Framstraße ziehenden Eis schließen Forscher auf den Zustand der Arktis

Die neuen Erkenntnisse gewann das Forscherteam erst mit einer neuen Perspektive: dem Blick auf des Meereis von unten. Da das nicht für den gesamten Arktischen Ozean möglich war, wählten sie einen bestimmten Ort aus, der zwischen Spitzbergen und dem Nordosten Grönlands liegt. Dort befindet sich so etwas wie der Ausgang des Arktischen Ozeans. Rund 90 Prozent des Meereises, das die Arktis in den Nordatlantik verlässt, driftet durch die dortige Framstraße. Und das macht den 500 Kilometer breiten Seeweg für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besonders interessant, da sie aus dem vorbeiziehenden Eis auf den Zustand des gesamten arktischen Meereises schließen können.

Seit 1990 schwimmen dort 15 Sonar-Sensoren. Auftriebskörper halten sie an Ort und Stelle, und diese sind ihrerseits an Kevlarseilen befestigt, die im Meeresboden verankert sind. In unterschiedlichen Tiefen messen die Sensoren den Abstand zum Meereis sowie zur Wasseroberfläche, um den Anteil des Meereises unter der Wasserlinie zu bestimmen. Um an die Messdaten zu gelangen, müssen die Wissenschaftler einmal im Jahr mit dem Schiff anreisen und die Datenspeicher auslesen. Und dann Jahre warten, um einen Trend ablesen zu können. Genau das hat das Team um Sumata getan. Und konnte nun den Regimewechsel im Jahr 2007 beschreiben. "Man sieht dieses Regime nach wie vor", sagt Gerland. "Es ist nicht nur eine jährliche Variation."

Und daran dürfte sich so schnell nichts ändern: Zumindest nicht in diesem Jahrhundert. Denn selbst wenn die Menschheit irgendwann kein CO2 mehr ausstoße, dauere es lange, bis sich der Ozean wieder abkühle, da er träge sei und die Wärme lange speichere, so Gerland.

Wenn das Eis verschwindet, ist das am Wetter in Europa spürbar

Auf der Suche nach einer Erklärung für den Regimewechsel nahm das Team wieder eine neue Perspektive ein - die von oben. Mittels Satellitenaufnahmen lässt sich verfolgen, wie sich ein großer Teil des Meereises jedes Jahr in den Randmeeren des Arktischen Ozeans bildet, etwa im Norden von Alaska oder Sibiriens. Es löst sich irgendwann wieder und driftet im Arktischen Ozean umher, ehe ein Teil davon über die Framstraße in den Nordatlantik abwandert und schmilzt. Seit den Jahren 2005 bis 2007 verweilt das Meereis aber deutlich kürzer im Arktischen Ozean, zeigen die Messungen: Waren es im Jahr 2005 noch 4,3 Jahre, die das Eis im Schnitt benötigte, bevor es den Arktischen Ozean durch die Framstraße verließ, so waren es im Jahr 2007 nur noch 2,7 Jahre. "Die geringere Aufenthaltszeit in der Arktis führt dazu, dass das Meereis eine schlechtere Chance hat zu verdicken", erklärt Gerland. Es bleibt also weniger Zeit, damit mehr Eis an der Unterseite anfrieren und sich durch Schneefall auf der Oberfläche ansammeln kann. Außerdem können weniger Eisschollen miteinander kollidieren, sich übereinander schieben und gegenseitig auftürmen und dabei Presseisrücken bilden.

Warum aber verweilte das Meereis seit 2005 und 2007 kürzer im Arktischen Ozean? Sumata und seine Kollegen erklären das damit, dass in jenen Jahren das Meereis aufgrund besonders heißer Temperaturen im Sommer zu einer so kleinen Fläche zusammen geschrumpft war wie nie zuvor beobachtet. Dementsprechend groß war der Anteil der dunkleren Meeresoberfläche, die mehr Wärme absorbieren kann. Umso schwerer hatte es das Meereis, sich im Herbst wieder zu formieren und zu verdicken. Dünneres Eis driftet aber leichter und schneller wieder aus dem Arktischen Ozean hinaus. Manche Wissenschaftler sprechen deshalb von einem Ausbluten.

Die Folgen dürften nicht nur für die Region gravierend sein. Denn wenn das Meereis an Dicke verliert, ist es angreifbarer und schmilzt schneller. Ein komplexes Ökosystem hat sich an die Bedingungen auf, im und unter dem Meereis angepasst. Fällt dieses weg oder verändert seine Strukturen, setzt das die arktische Fauna massiv unter Druck. Auch bahnen sich neue geopolitische Konflikte an, wenn das Eis dem Menschen neue Räume ermöglicht. Für noch relevanter hält Levermann allerdings eine andere Konsequenz, die auch in Deutschland zu spüren sei: "Wenn das Eis verschwindet, hat das starken Einfluss auf den Jetstream und damit auf das Wetter in Europa."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5772971
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.