Süddeutsche Zeitung

Verhaltensbiologie:Der Angriff der Killerwale

Lesezeit: 7 min

Seit Sommer dieses Jahres attackieren Orcas Segelboote vor Spanien und Portugal. Sind sie Rächer der Natur oder wollen sie nur spielen?

Von Hans Holzhaider

Es ist das Garn, aus dem ein ganzes Genre der Unterhaltungsindustrie gestrickt ist: der Öko-Thriller. Die Natur rächt sich für den hemmungslosen Raubbau, dem der Mensch sie unterworfen hat. Die geschundene Kreatur rebelliert gegen ihre Ausbeuter. Alfred Hitchcocks Film "Die Vögel". Der Angriff der Killerbienen. Genmanipulierte Heuschrecken mutieren zu Menschenfressern. Buckelwale versenken Touristenboote, Orcas fressen die Schiffbrüchigen.

Hat es schon begonnen? In diesem Sommer erregten Meldungen aus Spanien und Portugal einiges Aufsehen: Medien berichteten über eine Häufung von unheimlichen Begegnungen zwischen Orcas, auch Schwertwale genannt, und Segelbooten in der Straße von Gibraltar und im Atlantik vor Portugal und Galizien. Die Berichte der Segler, zuerst veröffentlicht im britischen Guardian, lasen sich durchaus dramatisch.

Am 22. Juli lief Nick Giles mit seinem Segelboot unter Motor vor der kleinen südspanischen Hafenstadt Barbate und hörte Musik, als er plötzlich von einem Schlag "wie mit einem Vorschlaghammer" aufgeschreckt wurde. "Das Steuer drehte sich mit unwiderstehlicher Kraft" erzählte er, "das Boot schwang um 180 Grad, hob sich um einen halben Fuß, und dann rammte mich ein zweiter Wal von hinten".

Zwei Stunden später hatten Beverly Harris und ihr Partner Kevin Large ein fast identisches Erlebnis. Sie hatten ihre 16-Meter-Yacht "Kailani" quer über den Atlantik gesegelt und liefen mit acht Knoten vor Barbate, als ihr Boot plötzlich wie von unsichtbarer Hand gestoppt wurde. "Bloody hell, they're orcas", zitiert der Guardian den Skipper. Das Boot hatte sich um 180 Grad gedreht; sie versuchten wieder auf Kurs zu kommen, aber die Orcas drehten das Schiff immer wieder herum. Zwanzig Minuten ging das so, die den Seglern wie Stunden vorkamen, dann schwammen die Wale davon.

Eine Woche später, am 29. Juli, bekam die Biologin Victoria Morris, 23, im selben Seegebiet den Schreck ihres Lebens. Die Neuseeländerin war an freundliche Begegnungen mit Orcas gewöhnt, aber diese Tiere verhielten sich entschieden unfreundlich. Immer wieder rammten sie den Rumpf der 14-Meter-Yacht und bissen ins Ruderblatt. "Der Lärm war furchterregend", berichtete die Seglerin. "Sie kommunizierten mit Pfeiftönen, als ob sie sich untereinander abstimmten." Victoria Morris alarmierte die Küstenwacht, aber die wollten nicht gleich glauben, was da los war: "Wollen Sie wirklich sagen, Sie werden von Orcas angegriffen?"

Die Skepsis ist nachvollziehbar. Aus den letzten zweihundert Jahren der Geschichte der Segelschifffahrt gibt es kaum mehr als ein Dutzend wirklich verbürgter Berichte über Angriffe von Walen auf Schiffe. Dabei hätten die riesigen Meeressäuger allen Grund gehabt, ihre gewaltige Kraft gegen die Schiffe zu richten, von denen sie gnadenlos gejagt und getötet wurden. Vom frühen 18. Jahrhundert an schwärmten die Walfangschiffe von den amerikanischen Häfen Nantucket und New Bedford über alle Weltmeere aus und richteten unter den Walbeständen im Atlantik und später auch im Pazifik ein gewaltiges Gemetzel an.

Die Walfängerei war durchaus ein gefährliches Gewerbe. Es kam oft vor, dass die kleinen Beiboote, in denen die Harpuniere standen, durch einen Schlag der Schwanzflosse kenterten oder leck schlugen. Manchmal verfing sich einer der Seeleute in der Harpunenleine und wurde über Bord gerissen. Ein Schiff konnte nachts mit einem Wal, dessen Rücken kaum über die Wasseroberfläche ragte, zusammenstoßen. Aber dass ein Wal mit zerstörerischer Absicht ein Schiff rammt, das lag für die Walfänger aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung außerhalb ihrer Vorstellung - bis zum 20. November 1820.

An diesem Tag griff ein Pottwal nahe des Äquators westlich der Galapagosinseln das Walfangschiff Essex an und beschädigte es so schwer, dass es zwei Tage später sank. Owen Chase, der Erste Steuermann des Schiffs, gab in seinem Tagebuch eine genaue Schilderung der Katastrophe. Der Wal rammte das Schiff seitlich, schwamm davon, kehrte um und rammte es ein zweites Mal frontal; es konnte keinen Zweifel geben, dass das Tier gezielt und in voller Absicht handelte.

Steuermann Chase konnte es nicht fassen. "Auch die ältesten und erfahrensten Walfänger haben von einem solchen Fall noch nie gehört", schrieb er. "Diese Wale kämpfen entweder mit Schlägen ihrer Schwanzflosse oder indem sie mit ihren Kiefern zuschnappen." Dieser Wal aber habe kurz nacheinander zweimal auf eine Art und Weise angegriffen, die darauf berechnet war, den größtmöglichen Schaden anzurichten. "Er war grauenhaft anzusehen", schrieb der Seemann, " und zeigte alle Anzeichen von bösem Willen und Wut. Er kam direkt aus der Herde, in der wir kurz zuvor drei seiner Gefährten getötet hatten - gerade so, als triebe ihn die Rache für deren Leiden."

Da schwamm das riesige Tier mit großer Geschwindigkeit auf das Schiff zu und schlug ihm ein Leck knapp unter der Wasserlinie

Die 20 Besatzungsmitglieder der Essex retteten sich in drei Boote. Mit dem Passatwind hätten sie leicht die Marquesas-Inseln erreichen können, aber sie fürchteten, dort unter Kannibalen zu fallen und steuerten deshalb südostwärts, um das mehr als 2000 Seemeilen entfernte südamerikanische Festland zu erreichen. Nur acht von ihnen überlebten, und auch sie nur, weil sie, grausame Ironie, selbst zu Kannibalen geworden waren.

Zwanzig Jahre später heuerte ein junger Seemann namens Herman Melville auf dem Walfänger Acushnet an. Im Südpazifik begegnete das Schiff der Lima aus Nantucket, und bei einem geselligen Beisammensein der beiden Mannschaften lernte Melville einen jungen Burschen kennen, der ihm von den Abenteuern seines Vaters erzählte, des Steuermanns Owen Chase. Der junge Chase gab Melville eine Kopie des Tagebuchs seines Vaters, und fasziniert las Melville die Geschichte vom Angriff des Wals auf die Essex.

Zehn Jahre später, 1851, erschien Melvilles Roman "Moby Dick", die Geschichte des monomanischen Kapitäns Ahab und seiner Jagd auf den weißen Wal, der in Melvilles Epos zum Symbol für die unzähmbare Wildheit und Erhabenheit der Natur wird. Noch während Melville am "Moby Dick" schrieb, wurde nicht weit vom Untergangsort der Essex wieder ein Schiff von einem Pottwal versenkt. Der Steuermann der Ann Alexander aus New Bedford hatte einen Wal harpuniert. Der Wal zerstörte zwei Beiboote, aber die Mannschaft ließ nicht ab und harpunierte ihn erneut. Da schwamm das riesige Tier mit großer Geschwindigkeit auf das Schiff zu und schlug ihm ein Leck knapp unter der Wasserlinie. Die 22 Seeleute an Bord hatten mehr Glück als einst ihre Kameraden von der Essex. Nach nur zwei Tagen in den Booten wurden sie von einem anderen Walfänger an Bord genommen.

Auch aus dem 20. Jahrhundert gibt es einige Berichte von unliebsamen Begegnungen zwischen Walen und Segelbooten, aber in keinem dieser Fälle ist klar, ob es sich tatsächlich um Angriffe oder eher um unbeabsichtigte Kollisionen handelte. Im Januar 1971 brach der 70-jährige Douglas Robertson mit seiner Frau Lynn und seinen vier Kindern in Cornwall zu einer Weltumseglung auf. 17 Monate später segelten sie mit ihrer 13-Meter-Yacht Lucette in der Nähe der Galapagosinseln, als das Boot plötzlich einen gewaltigen Schlag erhielt. "Der Kiel muss gebrochen sein", sagte Douglas, "es war ein Geräusch wie von einem splitternden Baumstamm". Er hörte ein Platschen, und sah drei Orcas, die dem Boot folgten. Die Segler hatten ein aufblasbares Rettungsfloß und ein Dinghi dabei, auf das sie sich von dem sinkenden Schiff retteten. Sie trieben 54 Tage über den Pazifik, ehe sie von einem japanischen Fischtrawler gerettet wurden.

Nur ein Jahr später, im März 1974, kollidierte die Segelyacht Auralyn vor der Küste Guatemalas mit einem Wal. Maralyn und Maurice Bailey aus Southampton waren auf dem Weg nach Neuseeland. Sie hatten kurz zuvor ein Walfangschiff passiert, als das Boot von einem heftigen Aufprall erschüttert wurde. Sie sahen hinter dem Boot einen sehr großen Wal, das Wasser um ihn herum war rot von Blut. Sie trieben in ihrem Rettungsfloß 117 Tage über das Meer und waren dem Tode nahe, als sie von einem koreanischen Fischerboot entdeckt und gerettet wurden.

Was Nick Giles, Beverley Harris und Victoria Morris im letzten Juli vor der spanischen Südküste erlebten, war bei Weitem nicht so dramatisch und folgenschwer wie diese Havarien im Pazifik. Aber spanische und portugiesische Behörden und Umweltorganisationen waren doch so beunruhigt, dass sie eine internationale Arbeitsgruppe gründeten, um die Interaktionen zwischen Orcas und Schiffen zu erforschen und zu analysieren.

Die Meeresbiologin Ruth Esteban vom Walmuseum auf Madeira ist Mitglied dieser Arbeitsgruppe. Ihren Angaben zufolge wurden seit Anfang Juli 33 Interaktionen zwischen Schwertwalen und Segelbooten registriert - sechs in oder vor der Straße von Gibraltar, fünf vor der portugiesischen Küste und von Mitte August an 22 vor der nordspanischen Küste und im Golf von Biskaya.

Pubertierende Teens halt: "Für die ist das eine Art Funsport. Sie finden Gefallen daran, Boote zu manipulieren."

Nur in 15 Prozent der Fälle seien Beschädigungen am Boot festgestellt worden; insbesondere das Ruderblatt war offensichtlich das bevorzugte Angriffsobjekt der Orcas. In keinem Fall waren Menschen gefährdet. Es habe aber durchaus riskante Situationen gegeben, schreibt Ruth Esteban, vor allem nachts und wegen der abrupten Bewegungen des Steuerruders.

Mit den wenigen historisch belegten Angriffen von Pottwalen auf große Segelschiffe lassen sich die Begegnungen mit Orcas nicht vergleichen. Pottwale werden bis zu 20 Meter lang und wiegen bis zu 50 Tonnen; ihr gewaltiger Schädel sieht schon äußerlich wie ein Rammbock aus. Orcas gehören zur Familie der Delfine, sie haben eine rundliche Schnauze und bringen höchstens fünf bis sechs Tonnen auf die Waage. Sie sind Raubtiere, das heißt sie fressen andere Tiere, wie Thunfische, Pinguine und Robben, aber es gibt keinen einzigen Bericht vom Angriff eines Orcas in freier Wildbahn auf einen Menschen.

Zu den Ursachen für das ungewöhnliche Verhalten der Orcas haben die Wissenschaftler bisher nur Vermutungen. "Dieses gezielte Vorgehen von Orcas gegen Segelboote ist definitiv etwas ganz Neues", sagt der Meeresbiologe Fabian Ritter, der für die Walschutzorganisation WDC (Whale and Dolphin Conservation) arbeitet. Einen Schlüssel für die Erklärung könnte die Beobachtung liefern, dass es wahrscheinlich immer dieselben Tiere waren, die sich an die Boote heranmachten. Die Form der Rückenflosse und die charakteristische schwarz-weiße Zeichnung der Orcas erlaubt die Identifizierung einzelner Individuen.

Die Auswertung von Fotos und Videos ergab, dass bei mindestens 20 der 33 registrierten Vorfälle dieselben drei Individuen beteiligt waren. Die Forscher gaben ihnen die Namen Gladis Schwarz, Grau und Weiß. Auch die zeitliche Abfolge der Ereignisse - zuerst vor Südspanien, dann vor Portugal und schließlich vor Galizien - ergibt Sinn: Die Orcas folgen dem Thunfisch, der im Juli in der Straße von Gibraltar laicht und dann der Küste entlang nach Norden zieht.

"Orcas kann man nur verstehen, wenn man ihre sozialen Bindungen kennt", sagt Fabian Ritter. "Sie leben in Familienverbänden; die einzelnen Verbände unterscheiden sich extrem in ihrem Verhalten und auch in ihrer akustischen Kommunikation." Deshalb hält der Meeresbiologe es auch für unwahrscheinlich, "dass sich dieses neue, scheinbar aggressive Verhalten auf andere Populationen ausbreitet."

Wenn die Schwertwale wirklich angreifen wollten, "würden sie anders vorgehen, da hätten sie andere Möglichkeiten", sagt Ritter. Er hält die scheinbaren Angriffe auf Segelschiffe eher für jugendlichen Übermut pubertierender Jungmänner. "Für die ist das eine Art Funsport. Sie finden Gefallen daran, Boote zu manipulieren. Sie gehen ja immer von hinten ran und beschädigen das Ruder. Sie kriegen mit, dass das Boot reagiert, das scheint ihr Antrieb zu sein. Wenn das Boot still liegt, lassen sie schnell ab."

Im nächsten Sommer, wenn die drei Orca-Teenies erwachsen geworden sind, wird man sehen, ob diese Hypothese Bestand hat.

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