Süddeutsche Zeitung

Influenza:Direkte Abkömmlinge der Spanischen Grippe

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Seit einigen Jahren kursieren wieder Influenzaviren vom Typ H1N1. Es sind keine vollständig neuen Erreger, sie sind vielmehr aus dem Virus von 1918 hervorgegangen, berichten Forschende vom RKI. Ein Glück für den Menschen, dass er seither Abwehrkräfte entwickelt hat.

Von Christina Berndt

Ob sich in diesen alten Lungen noch irgendetwas Verwertbares finden würde? Große Hoffnung hatte Sébastien Calvignac-Spencer eigentlich nicht. Aber das Medizinhistorische Museum der Charité lag so nah, quasi im Hinterhof seines Arbeitgebers, dass der Infektionsepidemiologe vom Robert-Koch-Institut (RKI) dort einfach mal vorbeischaute. Calvignac-Spencer interessiert sich seit langem für die Evolution von Viren, eigentlich von all jenen Erregern, die in den vergangenen 200 Jahren die menschlichen Atemwege befallen haben - ob sie dabei nun eine Pandemie auslösten oder einfach nur so von Mensch zu Mensch weitergetragen wurden. Aber dass das Berliner Museum über einen solchen virologischen Schatz verfügte, damit hatte er nicht gerechnet.

Denn in der medizinhistorischen Sammlung der Charité, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts von niemand geringerem als dem großen Pathologen Rudolf Virchow angelegt wurde, gab es gleich sechs Lungen oder Lungenteile von Menschen, die in der Zeit der Spanischen Grippe gestorben waren - jener umfassenden, bestialischen, wahrscheinlich größten aller Influenzapandemien, die die Menschheit je heimgesucht hat. Zwischen 1918 und 1920 hat sie schätzungsweise 50 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet, womöglich noch mehr. Und bis heute ist wenig über das Virus von damals bekannt, vor allem nicht, ob es sich - ähnlich wie wir es nun vom Coronavirus kennen - im Laufe der Pandemie fortentwickelt hat.

Tatsächlich hat auch der Erreger der Spanischen Grippe mit der Zeit gelernt, der Immunantwort der Menschen besser zu entkommen, so berichtet es das Team um Sébastien Calvignac-Spencer jetzt im Fachblatt Nature Communications. Denn die Forschenden fanden einige Mutationen, die darauf hindeuten. "Wissenschaftler fragen sich seit langem, was damals mit den Viren passierte", sagt Thorsten Wolff, der Leiter des Forschungsgruppe Influenzaviren am RKI, "nun können wir eine Antwort darauf geben."

Es war ein Erfolg, den sie nicht erwartet hatten, als Calvignac-Spencer vor fünf Jahren erstmals bei seinen Kollegen im Museum vorbeischaute. In drei der sechs Proben aus der Zeit der Spanischen Grippe fand das Team tatsächlich Erbgut von Influenzaviren. Dieses konnten sie aus zwei der Proben, die von Verstorbenen aus Berlin stammten, zum Teil genetisch entziffern und aus einer Probe von einem Verstorbenen aus München sogar nahezu vollständig. "Ich dachte erst, das wird nicht gut klappen, aber es klappte vom ersten Tag an wunderbar", sagt Calvignac-Spencer, "das virale Erbgut war erstaunlich gut erhalten." Im Durchschnitt waren die Fragmente über 100 Bausteine lange - viel länger als die des menschlichen Erbguts, das sie aus den Lungenproben herausholen konnten; womöglich, weil das Virus-Erbgut in seinen Virus-Partikeln besser geschützt war. Das Puzzle war trotzdem komplex, denn ein Influenza-Genom umfasst rund 14 000 Bausteine.

Bis zur Arbeit der RKI-Wissenschaftler gab es weltweit nur zwei vollständig entzifferte Genome von Viren der Spanischen Grippe - eines aus Alaska, das andere aus New York. Im Vergleich zu den US-Viren gab es einige veränderte Bausteine, doch die Genome der beiden Berliner Viren, die beide aus dem Juni 1918 stammten, unterschieden sich lediglich an zwei prominenten Stellen. "Zu dieser Zeit und an diesem Ort war die Variabilität der Viren offenbar zu vernachlässigen", sagt Thorsten Wolff. Das Münchner Virus war von den Berliner Viren hingegen 22 Mutationen entfernt, das Virus entwickelte sich offenbar im Laufe der Pandemie. "Es wurden Mutationen in das virale Erbgut aufgenommen, die für ein Entkommen vor dem humanen Immunsystem und damit für eine Anpassung an den menschlichen Wirt verantwortlich sind", sagt Stephan Ludwig, der in seinem Institut für Molekulare Virologie an der Universität Münster über Influenzaviren forscht und nicht zum RKI-Team gehört.

Das Erbgut wurde aus konservierten Lungen isoliert

Doch das Virus erfand sich auch nicht vollkommen neu. Selbst die aktuell kursierenden Influenza-Viren, die wie das Virus von 1918 vom Typ H1N1 sind, ähneln dem alten Pandemievirus noch stark. Es sind offenbar sogar direkte Abkömmlinge des Erregers der Spanischen Grippe. Die meisten Influenza-Forscher seien bereits davon ausgegangen, dass die saisonalen H1N1-Viren in direkter Linie von der 1918-Pandemie abstammen, sagt Stephan Ludwig, mit der neuen Arbeit herrsche nun Gewissheit. "Wir haben hier ein wunderbares Beispiel dafür, wie durch Weiterentwicklung von technischen Möglichkeiten und deren geschickter Kombination Erkenntnisse gewonnen werden können, die vorher für über 100 Jahre im Unklaren bleiben mussten", schwärmte der Virologe gegenüber der SZ. Es sei eine Leistung, aus den uralten konservierten Proben genügend Viruserbgut zu isolieren, dieses dann auch noch zu sequenzieren und die Daten mit Hilfe neuester Computeralgorithmen zu analysieren, um ihre evolutionären Zusammenhänge zu klären.

Influenzaviren sind dafür bekannt, dass sie ihre Gene austauschen und neu arrangieren können. Besonders häufig passiert das, wenn sich verschiedene dieser Erreger in einem Wirt treffen, meist in einem Schwein. Denn Schweine können sich nicht nur mit Schweine-Influenzaviren, sondern auch mit solchen von Vogel oder Mensch anstecken. Das menschliche H1N1-Virus aber ist sich dabei schon lange treu geblieben. "Man kann sich jetzt ziemlich sicher sein, dass nach der Pandemie von 1918 in den H1N1-Viren keine neue Kombination von Viren mehr stattgefunden hat", sagt Stephan Ludwig. Auch wenn H1N1 20 Jahre unauffällig blieb, bevor es 1977 wieder aufgetaucht ist, so ist es immer noch ein direkter Abkömmling der schlimmsten Grippeerkrankung der Welt. Die Menschen haben nur Glück, dass sie gegen dieses Virus über die Jahrzehnte guten Immunschutz aufgebaut haben.

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