Süddeutsche Zeitung

Zwischen den Zahlen:Im Ernst

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Eine Erinnerung an Opa, geboren 1899, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg, heimatvertrieben, gestorben 1988. Er hätte die gegenwärtige Krise vermutlich zu relativieren gewusst.

Von Harald Freiberger

Es ist kein Zufall, dass in der Familie in diesen Tagen häufig über den Opa geredet wird. Er pflegte nicht viel zu sprechen, was auch daran lag, dass er schwer hörte. Jeden Tag um 20 Uhr setzte er sich den Kopfhörer auf und verfolgte in der Tagesschau gebannt die Nachrichten. Einmal nahm er danach den Kopfhörer ab und sagte: "Die Leute wissen gar nicht, wie gut es ihnen geht." Es ist einer der wenigen Sätze, die von ihm in Erinnerung geblieben sind.

Das war in den 1970er-Jahren. Das Wirtschaftswunder war vorbei, in den Nachrichten kam auf einmal ein Wort vor, das man in der Bundesrepublik lange nicht gehört hatte: Krise. Der Opa nahm die Ölkrise ernst, er interessierte sich sehr für Wirtschaft. Aber er wusste es auch zu relativieren. Im Vergleich zu dem, was er erlebt hatte, so war sein Satz wohl zu verstehen, geht es den Leuten gut, sie wissen es nur nicht.

Opa war im Ersten Weltkrieg noch als Jugendlicher an die Front gerufen worden. Er nahm am Zweiten Weltkrieg teil, in dem seine Frau mit vier Kindern von Schlesien nach Bayern flüchten musste. Nach Jahren der Kriegsgefangenschaft fand er zu seiner Familie und baute sich mit 50 Jahren eine neue Existenz auf. Geboren im Jahr 1899, starb er 1988 nach einem langen, schweren, erfüllten Leben. In der Todesanzeige stand unter seinem Namen: "Elektrikermeister im Ruhestand" und darunter "Teilnehmer Erster Weltkrieg 1914 bis 1918, Teilnehmer Zweiter Weltkrieg 1939 bis 1945". Gesprochen hat er nicht über seine Erfahrungen, er redete ja nicht viel. Der eine Satz deutet es nur an: "Die Leute wissen gar nicht, wie gut es ihnen geht."

Spätere Krisen hat er nicht mehr erlebt: die Klimakrise, die Finanzkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise. Es wäre interessant zu erfahren, was er sagen würde, wenn er in der Tagesschau noch die Nachrichten von der Coronakrise verfolgen könnte, die jetzt häufig "die größte Krise der Nachkriegszeit" genannt wird. Er hätte sie wohl ernst genommen, so wie es die Kanzlerin wünscht. Aber irgendetwas Relativierendes wäre ihm vermutlich eingefallen.

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Quelle:
SZ vom 21.03.2020
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