Süddeutsche Zeitung

Versicherung:Schutz vor der nächsten Asbest-Katastrophe

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Ein Start-up berechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit von Milliardenschäden ist.

Von Herbert Fromme, Köln

Vor siebzig Jahren galt Asbest als wahrer Wunderwerkstoff. "Es war feuerfest und sehr hart und konnte gleichzeitig in flexiblen Materialien verarbeitet werden", erklärt Robert Reville, Chef des kalifornischen Start-ups Praedicat. Es hat sich zur Aufgabe gesetzt, unter 80 000 Materialien das zu finden, das sich ähnlich problematisch entwickeln könnte wie Asbest.

"Asbest wurde damals als Baumaterial verwendet, für Zigarettenfilter, Kunststofffliesen, Matten oder Kinderspielzeug", sagt Reville. Erst später stellte sich heraus, dass der Faserstoff extrem krebserregend ist. Hunderttausende von Arbeitern, die Asbest verbaut hatten, erlitten schwere gesundheitliche Schäden. Schiffsbesatzungen, Büroangestellte oder Schüler in betroffenen Gebäuden waren einem hohen Risiko ausgesetzt. Betroffene verklagen bis heute Unternehmen und ihre Versicherer.

Der wirtschaftliche Schaden für Hersteller und Verarbeiter beträgt mindestens 200 Milliarden Dollar, davon sind etwa 100 Milliarden Dollar versichert. "Das ist der größte Versicherungsschaden der Geschichte", sagt Reville. Die Konsequenz: Versicherer und Rückversicherer decken viele Risiken bei Chemikalien und Werkstoffen einfach nicht mehr ab und schließen gesundheitliche Schäden aus. "Die Deckungslücke beträgt rund 50 Prozent", sagt Reville. Ziel von Praedicat ist es, genau diese Risiken durch die exakte Auswertung wissenschaftlicher Analysen wieder versicherbar zu machen.

Über die Risiken von Asbest gab es früh wissenschaftliche Aufsätze, aber niemand nahm sie wirklich ernst. Praedicats Geschäftsmodell: Das Unternehmen analysiert automatisch so viele wissenschaftliche Studien wie möglich, die sich mit der Gesundheitsgefährdung durch Stoffe befassen. Je mehr Studien bestimmte Ergebnisse anderer Studien bestätigen, desto ernster nehmen Praedicats Systeme sie. In den ersten fünf Jahren lasen Experten die Studien. Inzwischen durchforsten selbstlernende Systeme die Zusammenfassungen. In Einzelfällen liest noch ein Mensch. Mit Hilfe komplexer Algorithmen errechnet das Unternehmen das Risiko.

Beispiel Dibutylphthalat (DBP), eine Chemikalie, die in Körperpflegeprodukten und Parfüm enthalten ist. In der EU ist der Wirkstoff seit 2015 verboten, in den USA gibt es Obergrenzen für die Exponierung. "Wir schätzen, dass DBP in den USA über mehrere Jahre mehr als 100 Milliarden Dollar an Schäden durch Sammelklagen anrichten könnte, die Wahrscheinlichkeit ist ein Prozent", sagt Reville. Die Lage ist nicht eindeutig: Zur Feststellung mancher Studien, dass DBP zu Entwicklungsstörungen führt, liegt der wissenschaftliche Konsens im mittleren Bereich. Doch bei der Frage, ob DBP die Fortpflanzung der Menschen schädigt, liegt der Konsens bei mittel bis hoch, Tendenz steigend.

Deutlicher ist das bei Formaldehyd. Hier herrscht "starker Konsens" in der Wissenschaft, dass eine hohe Exponierung Krebs auslösen könnte. Formaldehyd steckt oder steckte in Hunderten Produkten von Sperrholz über Laminat und Nagellackentferner bis hin zu Haarpflegemitteln. "Von den 80 000 Stoffen, die wir verfolgen, sind 71 mögliche Nachfolger von Asbest", sagt Reville. Praedicat arbeitet vor allem für Versicherer, aus Europa sind Allianz, Swiss Re und Scor dabei. "Aber auch Industrieunternehmen beziehen unsere Auswertungen." Das Unternehmen macht bislang Verlust. "Wir investieren sehr viel."

Der 52-jährige Reville stammt aus Buffalo im Staat New York. Er hat Volkswirtschaft studiert und dann lange für die wirtschafts- und militärnahe Expertenorganisation Rand Corporation gearbeitet. 2012 gründete er Praedicat. Rand ist mit 20 Prozent beteiligt, ebenso viel hält das Beratungsunternehmen RMS. RMS entwickelt Modelle für Hurrikanschäden. Einzelnen Investoren und dem Management gehört der Rest.

"Wir wollen die Versicherer nicht davon abhalten, diese Risiken zu versichern", sagt Reville. "Im Gegenteil, durch unsere Bewertung können sie das statistisch sauber erfassen und entsprechende Prämien verlangen." Aber wird dadurch nicht die Produktion von giftigen Stoffen gefördert, weil sich die Hersteller trotz Gesundheitsgefahren gegen Ansprüche versichern können? "Das Gegenteil ist der Fall", sagt Reville. Bislang seien Risikoausschlüsse und hohe Preise für Versicherungen nicht das Ergebnis wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern eher von Medienaufmerksamkeit. "Aber wenn unser System anzeigt, dass Wissenschaftler schädliche Eigenschaften eines Stoffes annehmen, sollten die Preise für die Versicherung steigen." Das könne eine Firma dazu bringen, Ersatzstoffe zu verwenden. "Die Welt wird sicherer durch uns."

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SZ vom 19.09.2018
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