Süddeutsche Zeitung

Zusatzleistungen:Gehalt ist nicht mehr das Nonplusultra

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Der neue Tarifvertrag der Chemieindustrie ist einmalig: Er beinhaltet eine Absicherung für den Pflegefall. Das ist vorbildlich - denn Geld allein taugt immer weniger als Leistungsanreiz.

Kommentar von Sibylle Haas

Dieser Abschluss muss Schule machen. Denn es geht um eine zusätzliche tarifliche Absicherung für den Pflegefall. Um eine Zusatzversicherung für die Beschäftigten, die der Arbeitgeber abschließt und welche die Finanzierungslücke beim Eintritt des Pflegefalls weitgehend schließen soll. Versichert sind die Mitarbeiter, für die die Unternehmen die Versicherungsprämie allein zahlen. Versichert sind, wenn gewünscht, sogar Familienangehörige, für die die Beschäftigten privat zahlen müssen, allerdings zu günstigen Konditionen.

Die Tarifpartner der Chemieindustrie haben sich da auf einen Abschluss verständigt, der einmalig ist in Deutschland. Und er ist weitsichtig und pragmatisch zugleich. Gerade zeigt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), wie es um die Pflege in Deutschland bestellt ist. Danach steigen die Pflegekosten exorbitant an. Da die Pflegeversicherung nur Kosten bis zu einer bestimmten Höhe übernimmt, steigt der Anteil, den die Betroffenen selbst aufbringen müssen. Dieser Eigenanteil, den Angehörige und Pflegebedürftige für Pflegeheime zahlen, ist in einigen Regionen Deutschlands um 78 Prozent höher als vor einem Jahr.

Inzwischen kann jeder sechste Pflegebedürftige die Zuzahlungen nicht mehr allein tragen. Oft müssen Kinder pflegebedürftiger Eltern einen Teil der Kosten übernehmen. Dass die Beiträge steigen und steigen, trifft die jüngere Generation ganz besonders. Sie muss das Geld für die Pflege der Eltern aufbringen und benötigt es doch eigentlich für die eigene Vorsorge selbst. Es ist ein Dilemma, aus dem die Jungen allein nicht herausfinden werden.

Es wird also Zeit, dass etwas geschieht. Vor allem, weil die geburtenstarken Jahrgänge allmählich in Rente gehen, bald keine Beitragszahler mehr sind, sondern vielleicht selbst zu Empfängern von Pflegeleistungen werden. Wenn in den Pflegeheimen schließlich immer mehr Menschen mit hohen Pflegestufen leben, dann steigen die Pflegekosten und damit auch die Eigenanteile. Die Last darf aber nicht zum großen Teil den Betroffenen selbst auferlegt werden. Es ist deshalb klug und richtig, die Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen als bisher.

Der Tarifvertrag der Chemie-Tarifpartner ist dafür beispielhaft. Die Unternehmen werden davon profitieren, weil sie motivierte Mitarbeiter bekommen. Denn vielen Beschäftigten sind Leistungen jenseits traditioneller Tarifsteigerungen wichtiger geworden. Dazu zählt ganz sicher die Absicherung für die Pflege. Dazu gehört aber auch mobiles Arbeiten, um Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Flexible Arbeitszeiten und flexible Arbeitsorte können Beschäftigten helfen, die Pflege von Angehörigen und die Betreuung von kleinen Kindern besser zu koordinieren. Zur modernen Arbeitswelt gehört auch eine vernünftige Weiterbildung, damit Beschäftigte den Anschluss an die Digitalisierung nicht verpassen.

Alles das sind Zuwendungen außerhalb klassischer Muster. Mehr Geld taugt ohnehin allein immer weniger als Leistungsanreiz, und mehr Geld macht Mitarbeiter auch nur kurzfristig zufrieden. Das liegt daran, dass die ohnehin zumeist nicht üppigen tariflichen Lohnsteigerungen von der Steuer großteils direkt aufgezehrt werden und, so geht zumindest aus Befragungen hervor, dass der Motivationsschub durch höheres Gehalt schnell abflacht.

Es braucht genau solche Entwicklungen jenseits starrer Tarifpolitik

Viele Arbeitnehmer wünschen sich vor allem mehr freie Zeit. Vielen ist sie wichtiger als eine Lohnerhöhung. Auch dies haben die Chemie-Tarifpartner berücksichtigt. Beschäftigte können zum Beispiel auf einem eigenen "Zukunftskonto" bald bis zu fünf freie Tage im Jahr ansparen. Diese freien Tage können sie jährlich nehmen, auf Langzeitkonten weiter stehen lassen und anhäufen oder umgerechnet in Geld für die Altersvorsorge nutzen. Auch eine jährliche finanzielle Auszahlung ist möglich. So viel Flexibilität bietet kaum ein anderer Tarifvertrag in Deutschland - auch wenn andere Branchen durchaus umdenken. Bei der Bahn etwa oder in der Metallindustrie haben Arbeitnehmer die Wahl zwischen freien Tagen oder mehr Lohn. Beschäftigte in der Metallindustrie können seit vorigem Jahr ihre Arbeitszeit zeitweise verkürzen. Auch wer Kinder betreut, Angehörige pflegt oder Schicht arbeitet, kann zusätzliche acht Tage im Jahr frei nehmen.

Dies alles sind Entwicklungen, die gut sind für die Beschäftigen. Es sind Entwicklungen jenseits starrer Tarifpolitik. Denn es sind Entwicklungen, die zeigen, dass Tarifpartner die betriebliche Wirklichkeit und die Lebensentwürfe der Mitarbeiter sehen und berücksichtigen.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2019
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