Süddeutsche Zeitung

Tätigkeitsbericht:Was Schäuble mit seinem Schuldenszenario wirklich bezweckt

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Deutschland im Jahr 2060: hoffnungslos verschuldet, mit über 200 Prozent. Das haben Mitarbeiter des Finanzministeriums ausgerechnet. Was soll das?

Kommentar von Guido Bohsem

Um etwas über den Tragfähigkeitsbericht des Finanzministeriums zu erfahren, versetzt man sich am besten zurück ins Jahr 1971. Damals trat in der DDR Erich Honecker die Nachfolge von Walter Ulbricht an. In der Schweiz erhielten die Frauen das Wahlrecht. Und die Sowjetunion installierte mit Saljut 1 die erste Raumstation.

Noch interessanter ist vielleicht, was die Leute damals noch nicht wussten. Zum Beispiel, dass es kurze Zeit später zum ersten Ölpreisschock kommen würde. Dass sich Computer in wenigen Jahren anschicken würden, das Leben von Menschen auf der ganzen Welt zu verändern. Oh, und dass Erich Honeckers DDR 1990 enden würde und die Sowjetunion wenig später ebenfalls. Wie das Leben im Jahr 2016 aussehen würde und wie viele fundamentale Veränderungen es in der Zwischenzeit gegeben hätte - davon hatte 1971 wahrscheinlich kein Mensch auch nur einen blanken Schimmer.

Hätte jemand 1971 eine Prognose für 2016 gewagt, wäre sie gescheitert

Was das alles mit dem Tragfähigkeitsbericht des Finanzministeriums zu tun hat, der am kommenden Mittwoch vom Bundeskabinett verabschiedet wird und der Süddeutschen Zeitung vorliegt? Ganz einfach: In diesem Bericht versuchen die zuständigen Beamten Wolfgang Schäubles (CDU) auf Grundlage der Informationen aus dem Jahr 2015 zu bestimmen, wie die Haushaltslage im Jahr 2060 sein wird. Hätte das 1971 jemand versucht, er wäre gnadenlos gescheitert.

Das ist natürlich auch Schäubles Statistikern klar, weshalb sie in ihrem Bericht ausdrücklich festhalten, dass es sich bei der Beschreibung der Finanzlage des Jahres 2060 nicht um eine Prognose, sondern lediglich eine um eine hypothetische Annahme handelt, die davon ausgeht, dass die Haushaltspolitik in den kommenden 45 Jahren genau die gleiche sein wird wie heute. Dann würde die Bundesrepublik hoffnungslos überschuldet sein und zwar mit über 200 Prozent.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das so sein wird ist aber - siehe oben - gleich null.

Jeder Smartphone-Besitzer trägt heute in seiner Jackentasche einen Computer mit sich herum, der deutlich leistungsfähiger ist als der Rechner, den die Sowjet-Russen für Saljut 1 in Betrieb hatten. Seit 1965 verdoppelt sich die Rechenleistung gut alle 18 Monate. Und doch spielen die Digitalisierung und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen in dem Tragfähigkeitsbericht des Finanzministeriums so gut wie keine Rolle.

Nein, der Bericht orientiert sich vor allem an den trägen Faktoren: den demografischen. Es ist nicht besonders schwierig abzusehen, wie hoch die Zahl der 45-Jährigen im Jahr 2060 sein wird, schließlich sind diese ja 2015 geboren. Und doch hat sich ja ausgerechnet im vergangenen Jahr etwas getan, was die Zahlenrechnung ordentlich durcheinanderwirbeln könnte. Immerhin sind über eine Million Flüchtlinge angekommen im laufenden Jahr werden es wohl kaum weniger werden. Wie viele davon bleiben werden, ist völlig unklar.

Der Bericht spielt den "bösen Mann" der Haushaltspolitik

Zu sagen, dass der Bericht diese möglichen Entwicklungen außer Acht lässt, wäre unfair. Im Gegenteil: Es gibt zahlreiche alternative Szenarien, die dort angeboten werden. Szenarien mit besserer Geburtenrate, höherer Zuwanderung, niedrigerer Arbeitslosigkeit, höherem Wirtschaftswachstum und so weiter. Bezogen auf den Schuldenstand heißt das, dass die Bundesrepublik 2060 auch bei einem Schuldenstand von knapp 60 statt von 200 Prozent landen kann. Das wäre besser als heute.

Bis zum Jahr 2060 ist also so ziemlich alles möglich - wer hätte das gedacht.

Welchen Zweck der Tragfähigkeitsbericht also erfüllt? Er spielt den "bösen Mann" der Haushaltspolitik. Wenn der Finanzminister angesichts der hohen Ausgabenwünsche seiner Kollegen auch in Zeiten der schwarzen Null einmal ganz doll "Buh!" sagen möchte - er wird mit aller Seelenruhe auf den Bericht verweisen.

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